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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Kind sich hat tödten, zum Krüppel machen oder einen erheblichen Schaden zufügen sehen, vorausgesetzt, daß man es nicht leichtsinniger Weise an erhöhte Plätze oder ohne Aufsicht in die Nähe des Feuers gesetzt oder gefährlicheInstrumente in seinem Bereiche gelassen hat. Was soll man wol zu diesem Arsenal künstlicher Mittel sagen, mit denen man ein Kind umschanzt, um es auf alle Weise gegen den Schmerz zu waffnen, und durch die man nichts Anderes erreicht, als daß es, wenn es erwachsen ist, demselben ohne Muth und ohne Erfahrung Preis gegeben ist, sich beim ersten Nadelstich schon für eine Beute des Todes hält und ohnmächtig wird, sobald es einen einzigen Blutstropfen vergießt?
    Ein Beleg für unsere pedantische Lehrwuth ist der leidige Umstand, daß wir uns nicht einmal enthalten können, den Kindern selbst das beizubringen, was sie aus sich selbst weit besser lernen würden, und daß wir darüber das verabsäumen, was wir allein sie lehren können. Gibt es wol etwas Thörichteres als die Mühe, die man sich gibt, sie gehen zu lehren? Hat man etwa schon je einen Erwachsenen gesehen, der deshalb nicht hätte gehen können, weil ihn seine Wärterin einst vernachlässigt hatte? Wie viele Leute sieht man dagegen, die lebenslang einen schlechten Gang behalten, den man ihnen schon am Gängelbande beigebracht hat.
    Emil wird weder Fallhüte, noch Laufkörbe, noch Kinderwagen, noch solche Gängelbänder bekommen; von dem Augenblicke an, wo er einen Fuß vor den andern setzen kann, wird man ihn nur noch an gepflasterten Stellen halten und ihm schnell darüber hinweghelfen. [1]
    Anstatt ihn in ungesunder Stubenluft verkümmern zu lassen, wird man ihn täglich mitten auf eine Wiese führen. Dort mag er laufen und sich lustig umhertummeln; meinetwegen mag er alle Tage hundertmal dabei hinfallen, das ist nur desto besser, denn dadurch wird er um so eher wieder aufstehen lernen. Das wohlthuende Gefühl der Freiheit wiegt viele Wunden auf. Mein Zögling wird sich gewiß oft stoßen, aber gleichwol wird er immer fröhlich und guter Dingesein. Wenn die Eurigen sich weniger oft wehe thun, so sind sie dafür auch nie Herren ihres eigenen Willens, sind stets gefesselt, fühlen sich stets gedrückt. Ich zweifle, daß der Vortheil auf ihrer Seite liegt.
    Auch noch ein anderer Fortschritt, nämlich die Entwickelung und Zunahme ihrer eigenen Kräfte, nöthigt sie jetzt weniger oft zum Weinen. Da sie jetzt mehr durch sich selbst vermögen, bedürfen sie fremder Hilfe desto weniger. Mit ihrer Kraft entwickelt sich gleichzeitig die Einsicht, die ihnen die Fähigkeit verleiht, dieselbe richtig zu leiten. Auf dieser zweiten Stufe beginnt eigentlich erst das individuelle Leben; nun erst gelangt das Kind zum Bewußtsein seiner selbst. Die Erinnerung erweitert die Empfindung der Identität über alle Augenblicke seines Daseins; es wird nun in Wirklichkeit ein einheitliches Wesen, das sich stets als dasselbe fühlt, und wird folglich jetzt erst des Glückes und Elendes fähig. Es ist deshalb von Wichtigkeit, daß man es von nun an als ein moralisches Wesen betrachte.
    Obgleich man über das äußerste Ziel des menschlichen Lebens, so wie über die Wahrscheinlichkeit, die man in jedem Lebensalter hat, dieses Ziel zu erreichen, annähernde Berechnungen besitzt, so ist doch nichts ungewisser als die Lebensdauer jedes einzelnen Menschen; dieses höchste Lebensziel erreichen nur sehr wenige. Gerade bei seinem Beginne ist das Leben den größten Gefahren ausgesetzt; je kürzere Zeit man gelebt hat, desto weniger darf man hoffen, sein Leben zu erhalten. Von allen Kindern, die geboren werden, erreicht höchstens die Hälfte das Jünglingsalter, und euer Zögling wird also wahrscheinlich das Mannesalter nicht erreichen.
    Was soll man also von der jetzigen barbarischen Erziehung denken, welche die Gegenwart einer ungewissen Zukunft opfert, die einem Kinde allerlei Fesseln anlegt und es gleich vom ersten Augenblicke an unglücklich macht, um ihm in weiter Ferne ich weiß nicht was für ein vermeintliches Glück zu bereiten, das es vermuthlich nie genießen wird? Wie könnte man, selbst für den Fall, daß diese Erziehung hinsichtlich ihres Zweckes vernünftig wäre, esohne Unwillen mit ansehen, wie diese armen unglücklichen Wesen einem unerträglichen Joche unterworfen und gleich Sträflingen zu ununterbrochenen Arbeiten verurtheilt sind, ohne sich der sicheren Hoffnung hingeben zu können, daß sie dereinst aus diesen vielen Mühen auch Nutzen

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