Emil oder Ueber die Erziehung
niemals schlafen wollte? Ihr würdet sagen: »Dieser Mann ist ein Thor; er gewinnt dadurch nicht an Zeit, sondern beraubt sich derselben vielmehr; um dem Schlafe zu entfliehen, läuft er dem Tode entgegen.« Bedenket nun, daß es sich hier um denselben Fall handelt, indem die Kindheit die Zeit ist, in welcher die Vernunft noch im Schlafe liegt.
Aus der scheinbaren Leichtigkeit, mit welcher Kinderlernen, entspringt für dieselben ein offenbarer Nachtheil. Man übersieht, daß eben diese Leichtigkeit der Beweis dafür ist, daß sie nichts lernen. Ihr glattes und noch ungetrübtes Gehirn wirft wie ein Spiegel die Objecte, die man ihm vorhält, wieder zurück; aber nichts haftet, nichts dringt ein. Das Kind behält nur die Worte; die Ideen werden zurückgestrahlt. Wer nun das Kind diese Worte wiederholen hört, versteht sie, das Kind allein versteht sie nicht.
Obgleich Gedächtniß und Urtheilskraft zwei wesentlich verschiedene Fähigkeiten sind, so entwickelt sich in Wahrheit die eine doch nur mit der andren. Vor dem Alter der Vernunft nimmt das Kind keine Ideen, sondern nur Bilder auf, und der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß die Bilder nur absolute Abbildungen sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, die Ideen dagegen Begriffe der nach ihren Beziehungen bestimmten Gegenstände sind. Ein Bild kann sich in dem Geiste, der es sich vorstellt, ganz allein vorfinden, aber jegliche Idee setzt andere voraus. Wenn man sich etwas vorstellt, sieht man nur; wenn man dagegen begreift, vergleicht man. Die Eindrücke, welche wir empfangen, sind lediglich passiver Natur, während sich alle unsere Begriffe oder Ideen aus einem activen urtheilenden Principe bilden. Dies werde ich weiter unten beweisen.
Ich behaupte demnach, daß die Kinder, da in ihnen die Urtheilskraft noch nicht geweckt ist, auch kein wirkliches Gedächtniß haben. Sie behalten Töne, Figuren, Eindrücke, aber selten Ideen, noch seltener Ideenverbindungen. Man wird meinen, mich durch den Einwand, daß sie doch einige Elemente der Geometrie lernen, widerlegen zu können; aber gerade dieser Umstand spricht für die Wahrheit meiner Behauptung; man beweist damit nur, daß sie, weit davon entfernt, sich selbst ein Urtheil zu bilden, nicht einmal die Schlüsse Anderer zu behalten vermögen, denn wenn ihr die Methode dieser kleinen Mathematiker aufmerksam beobachtet, werdet ihr bald bemerken, daß sie nur den genauen Eindruck der Figur und die Ausdrücke des Beweises behalten haben. Bei dem geringsten neuen Einwurfe wissen sie nicht aus und ein; drehet die Figur um,und sie wissen sich eben so wenig zu helfen. Ihr ganzes Wissen besteht aus aufgenommenen Eindrücken, nichts ist Eigenthum ihres Verstandes geworden. Selbst ihr Gedächtnis ist nicht vollkommener und entwickelter als ihre übrigen Fähigkeiten, denn fast immer müssen sie als Erwachsene die Dinge noch einmal lernen, von denen sie sich in der Kindheit nur die Worte angeeignet haben.
Trotzdem bin ich weit davon entfernt, mich dem Wahne hinzugeben, daß den Kindern jede Art von Urtheilskraft fehle. [18]
Im Gegentheil habe ich die Bemerkung gemacht, daß sie über Alles, wovon sie ein Verständniß haben, und was sich auf ihr augenblickliches und fühlbares Interesse bezieht, sehr richtig urtheilen. Man täuscht sich nur über ihre Kenntnisse, indem man ihnen solche zutraut, die sie nicht besitzen, und sie über Dinge urtheilen läßt, die sie nicht zu fassen vermögen. In einen gleichen Irrthum verfällt man, wenn man ihre Aufmerksamkeit auf Betrachtungen lenken will, die sie noch in keiner Weise berühren, wie z. B. auf ihr einstiges Interesse, auf ihr Glück, sich zur Menschheit zählen zu dürfen, auf die Achtung, in der sie als Erwachsene stehen werden, lauterRedensarten, die, weil sie an Wesen verschwendet werden, denen jegliche Voraussicht mangelt, völlig bedeutungslos für dieselben sind. Nun erstrecken sich aber alle erzwungene Lernversuche dieser armen Unglücklichen auf Gegenstände, die ihrem Geiste völlig fremd sind. Man möge nun selbst beurtheilen, wie viel Aufmerksamkeit sie denselben werden schenken können.
Die Pädagogen, welche uns die Kenntnisse, die sie ihren Schülern beibringen, mit großer Prahlerei vorzählen, werden bezahlt und sind deshalb gezwungen, eine andere Sprache zu führen, indeß läßt ihre eigene Handlungsweise durchblicken, daß sie genau wie ich denken. Denn was bringen sie ihnen am Ende bei? Worte, nichts als Worte, und immer wieder Worte. Unter den
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