Emil oder Ueber die Erziehung
beobachten, und am Auffinden derselben ihre Lust zu haben. Es liegt auf der Hand, daß dadurch wieder eine Quelle des Lasters in Emil’s Herzen verstopft wird. Da er kein Interesse daran hat, Fehler an mir zu entdecken, so wird er sich auch nicht versucht fühlen sie an mir, und noch weniger an Andern aufzufinden.
Diese vorgeschlagene Methode scheint schwierig, weil man ihr zu wenig Aufmerksamkeit schenkt; aber sie sollte es im Grunde nicht sein. Mit Recht darf man bei euch die Einsichten voraussetzen, welche euch befähigen, den von euch erwählten Beruf auszuüben; man darf annehmen, daß ihr mit dem natürlichen Entwickelungsgange des menschlichen Herzens vertraut seid und daß ihr nicht nur den menschlichen Charakter im Allgemeinen, sondern auch den jedes einzelnen Menschen zu erforschen vermögt, daß ihr im Voraus wißt, worauf sich der Wunsch eures Zöglings richten werde, sobald ihr ihm alle die Gegenstände vor Augen vorüberführt, welche seinem Alter Interessedarbieten. Macht uns nun aber der Besitz der Werkzeuge und die Kenntniß ihres Gebrauches nicht zu Herren des Erfolges?
Ihr beruft euch zur Begründung eures Einwandes auf den Eigensinn der Kinder; allein mit Unrecht. Der Eigensinn der Kinder ist niemals eine Mitgift der Natur, sondern das Ergebniß einer schlechten Zucht. Die Ursache liegt in ihrer Gewohnheit zu gehorchen oder zu befehlen, und ich habe schon hundertmal gesagt, daß sie weder das Eine noch das Andere thun dürfen. Den Eigensinn habt ihr also eurem Zöglinge lediglich selbst beigebracht, und es ist also ganz recht, daß ihr die Strafe eurer Fehler tragt. Aber, werdet ihr sagen, wie läßt sich diesem Uebel abhelfen? Bei besserer Leitung und vieler Geduld ist es noch möglich.
Ich hatte einst in Stellvertretung einige Wochen lang die Erziehung eines Kindes übernommen, welches nicht nur gewohnt war beständig seinen Willen durchzusetzen, sondern auch seine ganze Umgebung zwang, sich demselben zu fügen, und das folglich voller Grillen und Launen war. [24]
Gleich am ersten Tage wollte es, um meine Nachgibigkeit auf die Probe zu stellen, um Mitternacht aufstehen. Während ich ruhig im tiefsten Schlafe liege, springt es aus seinem Bette, zieht seinen Schlafrock an und ruft mich. Ich stehe auf und zünde Licht an. Weiter wünschte es nichts. Nach einer Viertelstunde stellt sich der Schlaf wieder bei ihm ein und es legt sich, mit dem Resultate der angestellten Probe zufrieden, wieder hin. Zwei Tage darauf wiederholt es dieselbe mit dem gleichen Erfolge und ohne das geringste Zeichen von Ungeduld meinerseits. Als es mich aber, bevor es sich wieder niederlegte, umarmte, sagte ich ganz trocken zu ihm: »Mein lieber Freund, das ist zwar recht schön, versuche es jedoch nicht noch einmal.« Diese Warnung erregte seine Neugier, und schon am nächsten Tage verspürte es wahrscheinlich Lust zu sehen, ob ich es wol wagen würde, mich seinem Willen zuwidersetzen, und unterließ deshalb nicht, wieder um die nämliche Stunde aufzustehen und mich zu rufen. Ich fragte, was es wünschte. Es schützte vor, nicht schlafen zu können. »Das ist schlimm!« versetzte ich und verhielt mich darauf ganz ruhig. Es bat mich Licht anzuzünden. »Weshalb?« entgegnete ich und beobachtete wieder Schweigen. Der lakonische Ton meiner Antworten begann es in Verlegenheit zu setzen. Es tappte im Finstern nach dem Feuerstahl umher und machte einige ungeschickte Versuche, Feuer anzuschlagen. Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren, als ich hörte, wie es sich dabei auf die Finger schlug. Als es sich endlich überzeugt haben mochte, daß es nicht zum Ziele kommen würde, brachte es mir den Feuerstahl an das Bett. Ich sagte ihm jedoch, es sollte mich in Ruhe lassen und drehte mich auf die andere Seite. Nun fing es an, wie unsinnig im Schlafzimmer auf und ab zu laufen, wobei es schrie, sang, Lärm machte und Tischen und Stühlen Stöße versetzte, allein sorgfältig bemüht war, sich nicht wehe zu thun, obgleich es nicht unterließ, bei jedem laut aufzuschreien, da es sich wol der Hoffnung hingeben mochte, mich dadurch zu beunruhigen. Aber alles dies war vergeblich, und ich begriff recht wohl, daß es sich gerade deshalb, weil es auf schöne Ermahnungen oder auf Zornausbrüche gerechnet hatte, in meine Kaltblütigkeit nicht finden konnte.
Indeß entschlossen, meine Geduld durch Halsstarrigkeit zu überwinden, setzte es seinen Lärm mit solchem Erfolge fort, daß ich endlich doch in Harnisch gerieth. Da mir mein Gefühl
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