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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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nur das Gegenwärtige ins Auge fassen, so verschaffte mir meine Voraussicht leicht einen Vortheil über ihn. Ich selbst trug Sorge, daß ihm zu Hause ein Vergnügen bereitet wurde, welches seinem Geschmacke außerordentlich zusagte, und in dem Augenblicke, wo ich sah, daß er sich demselben mit voller Lust hingab, schlug ich ihm einen Spaziergang vor. Er weigerte sich mit aller Entschiedenheit; ich bestand darauf,aber er hörte gar nicht mehr auf mich; ich mußte nachgeben, und er merkte sich genau dieses Zeichen meiner Unterwerfung.
    Am folgenden Tage kam nun die Reihe an mich. Diesmal hatte ich dafür gesorgt, daß er sich langweilen mußte, während ich äußerst beschäftigt schien. Das war mehr als genügend, ihn nach meinem Plane zu bestimmen. Er ermangelte nicht den Versuch zu machen, mich von meiner Arbeit loszureißen, damit ich sofort mit ihm spazieren gehen möchte. Ich weigerte mich; er bestand darauf. »Nein,« sagte ich zu ihm, »dadurch daß du mich zwangest, gestern deinem Willen nachzugeben, hast du mich auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, den meinigen zu behaupten; ich will nicht ausgehen.« »Nun gut!« erwiderte er lebhaft, »so werde ich ganz allein gehen.« »Wie du willst,« versetzte ich und nahm meine Arbeit wieder auf.
    Er kleidet sich an, etwas beunruhigt zu sehen, daß ich es geschehen lasse, ohne eine Miene zu machen, mich gleichfalls anzuziehen. Endlich ist er fertig und kommt, von mir Abschied zu nehmen; ich empfehle mich ihm ebenfalls. Nun sucht er mir durch Beschreibung der Wege, die er einzuschlagen gedenke, Besorgniß einzuflößen. Nach seinen Worten hätte man glauben sollen, er wollte bis ans Ende der Welt laufen. Ohne mich zu rühren, wünsche ich ihm eine glückliche Reise. Seine Verlegenheit verdoppelt sich. Indeß zeigt er doch eine leidliche Fassung und befiehlt beim Weggehen seinem Diener, ihm zu folgen. Dieser, welchem seine Rolle schon vorgeschrieben ist, erwidert, er habe keine Zeit, er sei durch Arbeiten für mich in Anspruch genommen und müsse mir mehr gehorchen als ihm. Das war für den Knaben ein wahrhaft vernichtender Schlag. Es mußte ihm unbegreiflich erscheinen, daß man ihn allein gehen ließ, ihn, der sich in seinem Kreise für die wichtigste Persönlichkeit hielt und der Ansicht war, daß Himmel und Erde an seiner Erhaltung Antheil nähmen. Allmählich beginnt er zum Bewußtsein seiner Schwäche zu kommen; es beschleicht ihn die Ahnung, daß er sich inmitten von Leuten, die ihn nicht kennen, allein fühlen werde; er sieht die Gefahren voraus, welche er laufenwird. Nur der Trotz läßt ihn sein Unrecht nicht eingestehen. Langsam und sehr betroffen steigt er die Treppe hinab. Endlich tritt er auf die Straße hinaus, während er sich über das Schlimme, das ihm zustoßen kann, durch die Hoffnung tröstet, daß man mich dafür verantwortlich machen werde.
    Darauf hatte ich gerechnet. Alles war schon im Voraus vorbereitet, und da es sich hierbei um eine Art öffentlichen Auftritts handelte, so hatte ich die Einwilligung des Vaters erbeten und erhalten. Kaum hatte er einige Schritte gethan, als er schon rechts und links allerlei Worte vernahm, die ihm galten. »Nachbar, sieh’ den hübschen jungen Herrn, wo mag er so allein hingehen? Er wird sich verlaufen; ich werde ihn lieber einladen, bei uns einzutreten.« – »Nachbarin, seid wohl auf eurer Hut! Seht ihr nicht, daß es ein lockeres Bürschchen ist, welches man aus dem Hause seines Vaters gejagt hat, weil es nicht hat gut thun wollen? Taugenichtse muß man sich aufzunehmen hüten. Laßt ihn laufen, wohin er will!« – »Nun gut! Gott geleite ihn! Es würde mir doch leid thun, wenn ihm ein Unglück zustieße.« Ein wenig weiter trifft er auf Gassenjungen, die mit ihm in ungefähr gleichem Alter stehen, ihn necken und sich über ihn lustig machen. Je weiter er geht, in desto größere Verlegenheiten stürzt er. Er bemerkt, daß ihn, der allein und schutzlos dasteht, alle Welt zur Zielscheibe ihres Spottes macht, er erfährt zu seiner großen Ueberraschung, daß seine Achselschleife und seine goldenen Aermelaufschläge nicht hinreichen, ihn in allgemeine Achtung zu setzen.
    Inzwischen folgte ihm einer meiner Freunde, welchen er nicht kannte und dem ich seine Überwachung anvertraut hatte, Schritt für Schritt, ohne daß er es gewahrte, und trat rechtzeitig an ihn heran. Diese Rolle, welche der des Gelegenheitsmachers Strigani in dem Molière’schen Lustspiele »Der Herr von Pourceaugnac« ähnlich war,

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