Emil oder Ueber die Erziehung
die Sorge für seine Erhaltung, für sein Wohlbefinden übernimmst, fühlt er sich von derselben frei. Sein Urtheil gründet sich auf das deinige, weshalb er Alles, was du ihm nicht verbietest, ohne Bedenken thut, weil er wohl weiß, daß ihm keine Gefahr dabei droht. Weshalb braucht er die Vorzeichen des Regens kennen zu lernen? Er weiß ja, daß du an seiner Statt den Himmel beobachtest. Weshalb braucht er für seinen Spaziergang bestimmte Zeiten festzusetzen? Er braucht nicht zu besorgen, daß du ihn das Mittagsessen werdest versäumen lassen. Er ißt, so lange du ihm nicht zu essen verbietest, verbietest du es ihm aber, so ißt er nicht mehr. Er gehorcht nicht dem Winke seines Magens, sondern dem deinigen. Verweichliche seinen Körper immerhin durch Unthätigkeit; dadurch wird sein Verstand keineswegs an Gewandtheit gewinnen. Im Gegentheile wirst du dadurch in seinem Geiste der Vernunft erst vollends allen Werth rauben, da du ihn den geringen Theil, den er davon erhalten hat, nur auf Dinge verwenden lassest, die ihm bisher vollends nutzlos erschienen. Da er ihren Nutzen nie wahrnimmt, so urtheilt er endlich, daß sie überhaupt keinen Nutzen bringen. Das Schlimmste, dem er sich bei einem falschen Urtheile aussetzte, wäre ein Verweis, und den erhält er so oft, daß er darauf nur nochwenig Rücksicht nimmt. Eine so gewöhnliche Gefahr vermag ihn nicht mehr zu schrecken.
Dennoch wirst du finden, daß es ihm an Geist nicht fehlt. Freilich besitzt er nur so viel, um in dem Tone, von dem ich bereits oben geredet habe, mit den Frauen zu schwatzen. Kommt er aber einmal in die Lage, mit seiner eigenen Person eintreten zu müssen, in einer schwierigen Angelegenheit Partei zu ergreifen, so wirst du ihn hundertmal beschränkter und alberner finden, als den Sohn des gröbsten Bauern.
Mein Zögling dagegen, oder vielmehr der der Natur, der schon frühzeitig angehalten ist, sich so viel als möglich selbst zu genügen, ist nicht daran gewöhnt worden, zu Anderen seine Zuflucht zu nehmen, noch weniger vor ihnen sein großes Wissen auszukramen. Dafür beweist er aber Urtheil, Vorsicht und Ueberlegung bei Allem, was sich unmittelbar auf ihn bezieht. Er schwatzt nicht, sondern handelt; er weiß kein Wort von dem, was in der Welt vorgeht, versteht aber das, was ihm dienlich ist, gar wohl zu thun. Da er in beständiger Bewegung ist, so sieht er sich genöthigt, vielerlei zu beobachten und viele Wirkungen kennen zu lernen. Er erwirbt sich frühzeitig eine große Erfahrung; er erhält seinen Unterricht von der Natur und nicht von Menschen; er unterrichtet sich um so lieber, da er nirgends die Absicht gewahrt, ihn unterrichten zu wollen. So wird sein Körper und sein Geist gleichzeitig geübt. Da er stets seinem eigenen Sinne und nicht dem Anderer folgt, so geht die körperliche wie geistige Anstrengung beständig Hand in Hand. Je stärker und kräftiger er wird, desto verständiger und urteilsfähiger wird er. Das ist der richtige Weg, dereinst das zu besitzen, was man für unvereinbar hält, und was dennoch fast alle große Männer gleichmäßig besessen haben, nämlich Kraft des Körpers und der Seele, die Vernunft eines Weisen und die Stärke eines Athleten.
Junger Erzieher, ich predige dir eine schwierige Kunst; du sollst lernen ohne Vorschriften die Erziehung zu leiten, und deine Aufgabe durch Nichtsthun zu erfüllen. Ich gebe zu, daß diese Kunst für dein Alter Schwierigkeiten hat; sieist nicht geeignet, deine Talente von vorn herein glänzen zu lassen, noch dir bei den Vätern ein großes Ansehen zu verschaffen, aber sie ist die einzige zum Ziele zu gelangen. Nie wirst du im Stande sein, Weise zu bilden, wenn du sie nicht vorher in ihrer natürlichen Wildheit hast aufwachsen lassen. Dieser Erziehung huldigten die Spartaner. Anstatt die Kinder an die Bücher zu fesseln, hielt man sie zuerst an, ihr Essen zu stehlen. Waren deswegen etwa die Spartaner, wenn sie erwachsen waren, geistig unbefähigt? Wer kennt nicht die Kraft und das Salz ihrer Erwiderungen? Zu allen Zeiten für die Erringung des Sieges herangebildet, vernichteten sie ihre Feinde in jeder Art der Kriegsführung, und die redseligen Athener fürchteten ihre schlagfertigen Worte nicht weniger als ihre Hiebe.
Bei der mit so großer Sorgfalt geleiteten Erziehung befiehlt der Lehrer und meint deshalb zu herrschen; in der That herrscht aber das Kind. Es bedient sich der Zumuthungen, die du an dasselbe stellst, um von dir das zu erlangen, was ihm gefällig ist, und
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