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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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erforderte einen Mann von Geist und wurde mit vollendeter Kunst durchgeführt. Ohne dem Kinde Furcht einzujagen und es dadurch einzuschüchtern, brachte er es doch zu so vollkommener Einsicht seines unbesonnenen Streiches, daßer es schon nach Verlauf einer halben Stunde folgsam und so beschämt zurückbrachte, daß es die Augen nicht aufzuschlagen wagte.

    Um das Mißgeschick, das über dem abenteuerlichen Zuge schwebte, zu vollenden, kam gerade in dem Augenblicke, in welchem mein Zögling heimkehrte, sein Vater die Treppe hinab, um auszugehen, und traf auf derselben mit ihm zusammen. Er mußte diesem erzählen, wo er her käme und weshalb ich nicht bei ihm wäre. [25] Das arme Kind hätte hundert Fuß in die Erde versinken mögen. Ohne sich darin zu gefallen, ihm einen langen Verweis zu ertheilen, sagte der Vater weit trockener, als ich erwartet hatte, zu ihm: »Wenn du wieder allein ausgehen willst, so ist dir das freilich unbenommen; da ich jedoch keinen Landstreicher in meinem Hause dulde, so sorge, wenn der Fall wieder vorkommen sollte, auch dafür, daß du nicht wieder zurückkehrst.«
    Ich meinerseits empfing ihn ohne Vorwurf und ohne Spott, jedoch ernster als gewöhnlich. Um allem Argwohne desselben vorzubeugen, daß der ganze Vorgang etwa nur ein verabredeter Scherz gewesen sei, wollte ich ihn auch an demselben Tage nicht spazieren führen. Zu meiner großen Freude gewahrte ich am folgenden Tage, daß er mit triumphirender Miene an den nämlichen Leuten vorüberschritt, welche sich Tags zuvor über ihn lustig gemacht hatten, weil sie ihm allein begegnet waren. Man wird es begreiflich finden, daß er mir seitdem nicht mehr drohte, ohne mich auszugehen.
    Durch diese und ähnliche Mittel setzte ich es in der kurzen Zeit, die ich bei ihm war, durch, daß er Alles that, was ich wollte. Ich brauchte ihm dazu nichts vorzuschreiben und nichts zu verbieten, bedurfte keiner Predigten, keiner Ermahnungen, keiner langweiligen Belehrungen. So lange ich mit ihm sprach, war er heiter und zufrieden, allein mein Stillschweigen beängstigte ihn; er merkte dann,daß irgend etwas nicht in der Ordnung war, und immer hatte er die Berichtigung der Sache selbst zu verdanken. Aber laßt uns wieder auf unseren Gegenstand zurückkommen.
    Diese fortwährenden, der Leitung der Natur allein überlassenen Uebungen stumpfen demnach, während sie den Körper kräftigen, den Geist nicht nur nicht ab, sondern bilden in uns im Gegentheile die einzige Art von Vernunft, deren das Kindesalter fähig und die jeglichem Alter am nöthigsten ist. Sie lehren uns den rechten Gebrauch unserer Kräfte, die Beziehungen unseres Körpers zu den uns umgebenden Körpern und den Gebrauch der natürlichen Werkzeuge kennen, welche sich in unserem Bereiche befinden und unseren Organen entsprechen. Gibt es wol eine ähnliche Dummheit wie die eines beständig im Zimmer und unter den Augen seiner Mutter erzogenen Kindes, welches, ohne etwas von der Schwere und der Widerstandsfähigkeit erfahren zu haben, einen starken Baum ausreißen oder ein Felsstück aufheben will? Als ich zum ersten Male aus Genf herauskam, wollte ich ein galoppirendes Pferd einholen. Ich warf mit Steinen nach dem Berge Salève, der zwei französische Meilen von mir entfernt war. Alle Dorfkinder machten mich zur Zielscheibe ihres Spottes und schienen mich für einen wahren Idioten zu halten. Die Lehre vom Hebel lernt man im achtzehnten Jahre auf höheren Schulen; es gibt aber sicherlich keinen zwölfjährigen Bauernknaben, der mit einem Hebel nicht besser umzugehen wüßte, als der erste Mechaniker der Akademie. Was die Schüler auf dem Hofe des Gymnasiums von einander selbst lernen, ist ihnen hundertmal nützlicher als Alles, was man ihnen je im dumpfen Schulzimmer beibringen wird.
    Betrachtet nur eine Katze, wenn sie zum ersten Male in ein Zimmer kommt. Sie untersucht, schaut umher, beriecht Alles, überläßt sich keinen Augenblick der Ruhe, traut keinem Dinge, bis sie Alles geprüft, Alles erforscht hat. Eben so benimmt sich ein Kind, wenn es zu gehen anfängt und dadurch gleichsam in die Welt eintritt. Der ganze Unterschied besteht darin, daß sich das Kind wie die Katze außer dem Gesichtssinne, welcher Beiden gemeinsamist, noch eines andern Sinnes zur genauen Beobachtung bedienen, das Erstere des Tastsinnes, mit welchem es die Natur ausstattete, Letztere dagegen des ihr verliehenen feinen Geruchsinnes. Diese Anlage ist es gerade, welche je nach ihrer guten oder schlechten Ausbildung die

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