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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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läßt dich stets eine Stunde Fleiß mit acht Tagen Nachgibigkeit bezahlen. Jeden Augenblick mußt du mit ihm einen Vertrag eingehen. Diese Verträge, die du nach deiner Weise vorschlägst, und die es nach der seinigen ausführt, wenden sich stets zu Gunsten seiner Launen, besonders wenn man sich die Ungeschicklichkeit zu Schulden kommen läßt, zu seinem Vortheile das als Bedingung aufzustellen, was es zu erlangen sicher ist, möge es nun die Bedingung, welche man ihm dafür auferlegt, erfüllen oder nicht. Gemeiniglich liest das Kind weit besser in der Seele des Lehrers, als der Lehrer in dem Herzen des Kindes. Und das muß so sein; denn allen Scharfsinn, welchen das sich selbst überlassene Kind zur Erhaltung seiner Person angewendet hätte, bietet es nun auf, seine Freiheit aus den Banden seines Tyrannen zu retten, während es für diesen, der kein so dringendes Interesse hat, das Kind zu durchschauen, oft vorteilhafter ist, es aus seiner Faulheit oder Eitelkeit nicht aufzurütteln.
    Schlage mit deinem Zöglinge den entgegengesetzten Weg ein; möge er immerhin glauben, der Herr zu sein, wenn du es nur stets in der That bist. Keine andere Unterwürfigkeitist so vollkommen, als diejenige, welche den Schein der Freiheit bewahrt; dadurch nimmt man den Willen selbst gefangen. Steht das arme Kind, welches nichts weiß, nichts kann, nichts kennt, nicht völlig in deiner Gewalt? Verfügst du nicht vermöge des Verhältnisses, in welches du zu ihm getreten bist, über seine ganze Umgebung? Hängt es nicht von dir ab, in jeder Weise auf dasselbe bestimmend einzuwirken? Liegen nicht seine Arbeiten, seine Spiele, seine Vergnügungen, seine Strafen ohne sein Wissen sämmtlich in deinen Händen? Allerdings soll es nur thun, was es selbst will; aber es darf nur das wollen, was mit deinem Willen übereinstimmt; es darf nicht einen einzigen Schritt thun, den du nicht vorausgesehen hast; es darf den Mund nicht öffnen, ohne daß du weißt, was es sagen will.
    Alsdann wird es die körperlichen Uebungen, welche sein Alter erfordert, betreiben können, ohne daß sein Geist darunter leidet; alsdann wirst du sehen, wie es nicht seine Schlauheit darauf richtet, sich einer unbequemen Herrschaft zu entziehen, sondern wie es sich vielmehr ausschließlich damit beschäftigt, aus seiner ganzen Umgebung den größten Vortheil für sein augenblickliches Wohlsein zu ziehen; alsdann wirst du dich über die Feinheit seiner Erfindungsgabe wundern, mit der es sich alle ihm erreichbaren Gegenstände anzueignen und sich von ihnen einen wahrhaften Genuß zu verschaffen sucht, ohne erst der Beihilfe seiner Phantasie zu bedürfen.
    Dadurch, daß du ihm auf diese Weise seinen freien Willen lässest, nährst du seine Launenhaftigkeit keineswegs. Da es nur das thut, was ihm dienlich ist, wird es bald auch nur das thun, was es thun soll, und obgleich sich sein Körper in fortwährender Bewegung befindet, so wirst du doch da, wo es sich um sein augenblickliches und fühlbares Interesse handelt, sich die ganze Vernunft, deren es fähig ist, viel besser und auf eine ihm weit entsprechendere Weise entfalten sehen, als bei reinen Verstandesübungen.
    Da es folglich nie sieht, daß du darauf ausgehst, ihm entgegenzutreten, da es kein Mißtrauen in dich setzt und dir nichts zu verbergen hat, so wird es dich auch nichthintergehen und belügen; es wird sich ohne Bedenken so zeigen, wie es ist. Du wirst es ganz nach deinem Gefallen studieren und die Lehren, die du ihm geben willst, in volle Uebereinstimmung mit seiner ganzen Umgebung setzen können, ohne daß es auf den Gedanken kommt, man wolle es belehren.
    Eben so wenig wird es ihm einfallen, deine Sitten mit neugieriger Mißgunst auszuspähen, noch wird es sich ein heimliches Vergnügen daraus machen, dich auf einem Fehler zu ertappen. Der Uebelstand, dem wir dadurch vorbeugen, ist wahrlich nicht zu unterschätzen. Eine der ersten Bemühungen der Kinder ist, wie schon gesagt, darauf gerichtet, die Schwächen ihrer Erzieher zu entdecken. Diese Neigung führt zur Bosheit und hat nicht etwa ihre Quelle in derselben; sie entspringt vielmehr dem Bedürfnisse, sich einer Autorität zu entziehen, die ihnen lästig fällt. Der schwere Druck des Joches, welches man ihnen auflegt, flößt ihnen den Wunsch ein, dasselbe abzuschütteln, und die Fehler, die sie an ihren Lehrern finden, verschaffen ihnen dazu die besten Mittel. Hierdurch entsteht nun bei ihnen die leidige Gewohnheit, die Menschen um ihrer Fehler willen zu

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