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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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können. Aber wozu sollen diese fortwährenden Antworten dienen? Ertheilt meine Methode selbst auf die Einwürfe die richtige Antwort, so ist sie gut; vermag sie aber nicht darauf zu antworten, so taugt sie nichts. Ich fahre deshalb fort.
    Wenn ihr nach dem Plane, den ich zu entwerfen angefangen habe, Regeln befolgt, die im völligen Gegensatze zu den herkömmlichen stehen; wenn ihr, anstatt den Geist eures Zöglings in weiter Ferne umherschweifen, ihn unaufhörlich in anderen Gegenden, in anderen Himmelsstrichen, in anderen Jahrhunderten, an den äußersten Enden der Erde, ja selbst in dem Himmel umherirren zu lassen, wenn ihr, sage ich, statt dessen darauf hinwirkt, daß er sich sammelt und seine Aufmerksamkeit auf das lenkt, was ihn unmittelbar berührt: dann werdet ihr ihn auch zum Auffassen, Behalten, ja selbst zum Urtheilen fähig finden; so bedingt es die Ordnung der Natur. Je nach der Thätigkeit, der sich ein empfindendes Wesen hingibt, erwirbt sich dasselbe auch eine seinen Kräften entsprechende Urteilskraft; und nur mit dem Ueberschusse der Kraft, die nicht mehr zu seiner Erhaltung nöthig ist, entwickelt sich in ihm diese speculative Fähigkeit, welche geeignet ist, diesen Kraftüberschuß noch zu andrem Gebrauche zu verwenden. Wollt ihr also den Geist eures Zöglings ausbilden, so bildet die Kräfte aus, welche jener beherrschen soll. Uebt unablässig seinen Körper, macht euren Zögling stark und gesund, um ihn klug und vernünftig machen zu können. Er arbeite und sei thätig, er laufe und schreie,kurz, er sei beständig in Bewegung. Erst sei er an Kraft ein Mann, dann wird er es auch bald an Verstand sein.
    Wolltet ihr ihm nun beständig jeden Tritt und Schritt vorschreiben und ihm unablässig zurufen: »Gehe, komme, bleibe, thue dies, unterlasse jenes,« dann könntet ihr ihn, das ist richtig, durch diese Methode freilich verdummen. Wenn euer Kopf beständig seine Arme lenkt, wird ihm schließlich der seinige unnütz. Erinnert euch jedoch unseres Uebereinkommens: Seid ihr nur Pedanten, dann lohnt es sich nicht der Mühe mich zu lesen.
    Es ist ein sehr beklagenswerter Irrthum sich einzubilden, daß körperliche Uebung der geistigen Thätigkeit schade; als ob sich diese beiden Thätigkeiten nicht gleichzeitig betreiben ließen, und die eine nicht immer die andere leiten müßte.
    Es gibt zwei Classen von Menschen, deren Körper sich in unaufhörlicher Uebung befindet, und von denen sicherlich die eine eben so wenig als die andere daran denkt, ihren Geist zu bilden, nämlich die Landleute und die Wilden. Die Ersteren sind ungeschlacht, plump, ungeschickt; die Letzteren sind wegen der Schärfe ihrer Sinne und in noch höherem Grade wegen der Gewandtheit ihres Geistes bekannt. Im Allgemeinen gibt es nichts Unbeholfeneres als einen Bauer und nichts Schlaueres als einen Wilden. Woher kommt dieser Unterschied? Daher, daß Ersterer, weil er beständig nur das thut, was man ihm befiehlt, oder was er seinen Vater hat thun sehen, oder was er von Jugend auf gethan hat, nie aus dem alten Schlendrian herauskommt, und daß bei ihm, der sich in seinem fast maschinenmäßigen Leben unaufhörlich mit den nämlichen Arbeiten beschäftigt, Gewohnheit und Gehorsam allmählich an die Stelle der Vernunft getreten sind.
    Völlig anders verhält es sich mit dem Wilden. Nicht an die Scholle gebunden, zu keinem vorgeschriebenen Tagewerke verpflichtet, zu keinem Gehorsam gezwungen, durch keine Schranke des Gesetzes in seinem Willen behindert, sieht er sich genöthigt, jede Handlung seines Lebens zuvor sorgfältig zu überlegen. Er macht keine Bewegung, thutkeinen Schritt, ohne die Folgen vorher erwogen zu haben. Je mehr sich daher sein Körper übt, desto aufgeklärter wird sein Geist; seine Kraft und seine Vernunft wachsen gleichzeitig und bilden sich gegenseitig aus.
    Weiser Lehrer! Laß uns abwarten, welcher von unsren beiden Zöglingen dem Wilden und welcher dem Bauer gleichen wird. In Allem einer stets meisternden Autorität unterworfen, thut der deinige nichts ohne dein Geheiß; er wagt nicht zu essen, wenn ihn hungert, nicht zu lachen, wenn er fröhlich, oder zu weinen, wenn er traurig ist, nicht eine Hand statt der andern zu reichen, oder einen Fuß anders zu setzen als man es ihm vorschreibt; bald wird er nur nach deinen Regeln zu athmen wagen. Woran soll er wol denken, wenn du für ihn an Alles denkst? Weshalb braucht er, da er sich auf deine Vorsicht verlassen kann, selbst vorsichtig zu sein? Da er bemerkt, daß du

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