Emil oder Ueber die Erziehung
Hauptwunsch stets darin, unbehindert und frei zu sein. Die einfachste, die bequemste Bekleidung, eine solche, die es am wenigsten beengt, hat in seinen Augen dann stets den Vorzug.
Der Körper läßt sich an Bewegung und noch mehr an Unthätigkeit gewöhnen. Bei letzterer Gewöhnung, die eine gleichmäßige und einförmige Circulation der Säfte gestattet, muß man den Körper vor ungünstiger Witterung bewahren; bei ersterer hingegen, die einen fortwährenden Uebergang von Bewegung zur Ruhe und von Hitze zur Kälte bedingt, muß man ihn gegen alle Witterungsverhältnisse abhärten. Daraus folgt, daß sich alle durch ihre Geschäfte an das Zimmer gefesselten und zu einer sitzenden Lebensweise verurtheilten Leute jederzeit warm kleiden müssen, um den Körper in einer in allen Jahreszeiten und in allen Tagesstunden fast gleichmäßigen Temperatur zu erhalten. Solche Leute dagegen, die in Wind und Wetter, in Regen und Sonnenschein gehen und kommen, in unausgesetzter Bewegung sind und den größten Theil ihrer Zeit unter freiem Himmel zubringen, müssen stets leicht gekleidet sein, um sich ohne Nachtheil an jeden Temperaturwechsel und an alle Wärmegrade zu gewöhnen. Ich würde den Einen wie den Anderen rathen, nicht besondere Kleider für die verschiedenen Jahreszeiten zu tragen. Bei meinem Emil werde ich wenigstens streng nach diesem Grundsatze verfahren. Damit will ich jedoch nicht gesagt haben, daß er wie die Stubenhocker im Sommer seine Winterkleider, sondern vielmehr, daß er wie die ächten Arbeitsleute im Winter seine Sommerkleider tragen soll. So kleidete sichNewton während seines ganzen Lebens und hat es dabei auf ein Alter von achtzig Jahren gebracht.
Eine dünne oder noch besser gar keine Kopfbedeckung in jeder Jahreszeit! Den alten Aegyptern war eine Kopfbedeckung völlig fremd; die Perser bedeckten ihr Haupt mit schweren Tiaren und bedecken es noch jetzt mit dicken Turbanen, welche Sitte nach Chardin das Klima des Landes unumgänglich nöthig macht. An einer anderen Stelle [26] habe ich auf den Unterschied aufmerksam gemacht, welchen Herodot auf einem Schlachtfelde zwischen den Schädeln der Perser und denen der Aegypter herausfand. Da also viel davon abhängt, daß die Knochen des Kopfes härter, fester, weniger zerbrechlich und porös werden, um das Gehirn nicht allein gegen Verletzungen, sondern auch gegen Erkältung, Entzündung und alle Einwirkungen der Witterung zu schützen, so gewöhnt eure Kinder daran, Sommer und Winter, Tag und Nacht stets in bloßem Kopfe zu bleiben. Wollt ihr ihnen jedoch der Reinlichkeit wegen und um ihre Haare in Ordnung zu halten während der Nacht eine Kopfbedeckung geben, so darf dieselbe nur in einer dünnen, feinen Mütze bestehen, ähnlich dem Netze, welches die Basken um ihre Haare schlingen. Ich bin mir wohl bewußt, daß bei der Mehrzahl der Mütter Chardin’s Beobachtungen mehr Anklang als meine Gründe finden und sie deshalb auch glauben werden, überall persisches Klima zu entdecken, ich habe aber nicht deshalb einen Europäer zu meinem Zöglinge gewählt, um einen Asiaten aus ihm zu bilden.
Im Allgemeinen kleidet man die Kinder zu warm, besonders im frühesten Lebensalter. Es wäre besser, sie gegen die Kälte als gegen die Wärme abzuhärten. In Folge großer Kälte werden sie nie erkranken, wenn man sie derselben nur von früh auf aussetzt, während sie die jedes richtige Maß überschreitende Wärme unvermeidlich erschöpfen muß, da das noch allzu zarte und lockere Hautgewebe der Ausdünstung einen zu freien Durchgang gestattet. Deswegen sterben auch, wie man beobachtet hat,im August mehr Kinder als in jedem anderen Monat. Uebrigens geht aus einer Vergleichung der nordischen Völker mit denen des Südens unzweifelhaft hervor, daß das Ertragen heftiger Kälte ungleich mehr kräftigt als das Ertragen großer Hitze. Je mehr das Kind aber heranwächst und je stärker seine Fibern werden, desto mehr müßt ihr es auch nach und nach daran gewöhnen, den Strahlen der Sonne zu trotzen. Geht ihr dabei stufenweise zu Werke, so werdet ihr es ohne Gefahr selbst gegen die tropische Hitze abzuhärten vermögen.
Locke verfällt inmitten der männlichen und verständigen Vorschriften, die er uns ertheilt, in Widersprüche, die man von einem so überlegenden Denker nicht erwarten sollte. Derselbe Mann, welcher den Wunsch ausspricht, daß sich die Kinder im Sommer in eiskaltem Wasser baden mögen, verbietet ihnen, etwas Kaltes zu trinken, wenn sie erhitzt sind, oder
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