Emil oder Ueber die Erziehung
sich an nassen Stellen auf den Boden zu legen. [27]
Gleichzeitig verlangt er auch, daß ihre Schuhe zu allen Seiten Wasser durchlassen sollen; wird das nicht ebenfalls geschehen, wenn das Kind erhitzt ist? Und kann man nicht von den Füßen dieselben Schlüsse auf den Körper ziehen, die er von den Händen auf die Füße und von dem Gesichte auf den Körper zieht? Wenn du verlangst, würde ich ihm entgegnen, daß der Mensch ganz Gesicht sei, weshalb willst du mich tadeln, wenn ich verlange, daß er ganz Fuß sein soll.
Um die Kinder vom Trinken abzuhalten, sollen wir sie nach seinem Rathe daran gewöhnen, vor allen Dingen ein Stück Brod vor dem Trinken zu essen. Es ist doch in der That sehr befremdend, daß er einem durstigen Kinde zu essen geben will. Mit demselben Rechte könnte ich einem hungrigen Kinde zu trinken geben. Niemals wird man mich davon zu überzeugen vermögen, daß unsere ersten Bedürfnisse so regellos seien, daß man sie nichtbefriedigen könnte, ohne sich einer Todesgefahr auszusetzen. Verhielte dies sich wirklich so, dann wäre das Menschengeschlecht hundertmal zu Grunde gegangen, ehe es gelernt hätte, was zu seiner Erhaltung erforderlich wäre.
So oft Emil Durst haben wird, soll man ihm zu trinken reichen. Man soll ihm reines Wasser geben, und zwar ohne alle Zubereitung, ja sogar ohne es erst verschlagen zu lassen, und wenn er über und über schwitzte, und wenn es mitten im Winter wäre. Nur in Bezug auf die Beschaffenheit des Wassers werde ich die höchste Sorgfalt anempfehlen. Flußwasser gebe man ihm sofort, wie es aus dem Flusse kommt; Quellwasser muß man aber erst einige Zeit an der Luft stehen lassen, ehe er dasselbe trinken darf. In der warmen Jahreszeit sind auch die Flüsse warm; anders verhält es sich mit den Quellen, die nicht mit der Luft in Berührung gestanden haben. Man muß deshalb so lange warten, bis das Wasser die Temperatur der Luft erreicht hat. Im Winter ist hingegen das Quellwasser in dieser Beziehung weniger gefährlich als das Flußwasser. Indeß ist es weder natürlich, noch ereignet es sich häufig, daß man im Winter, namentlich im Freien, in Schweiß geräth. Denn die kalte Luft, welche die Haut unaufhörlich berührt, treibt den Schweiß nach Innen zurück und verhindert die Poren sich weit genug zu öffnen, um ihm einen freien Durchgang zu gestatten. Nun liegt es durchaus nicht in meiner Absicht, daß Emil im Winter seine Kräfte beim warmen Kaminfeuer übe; sondern draußen, auf freiem Felde, mitten unter Eis und Schnee soll er sich Bewegung machen. So lange er sich nur durch Schneeballen erhitzt, mag er trinken, sobald er Durst empfindet; nachdem er getrunken hat, soll er nur fortfahren, sich zu bewegen, und man braucht dann keinen Nachtheil zu besorgen. Auch wenn er in Folge einer anderen Anstrengung in Schweiß geräth und Durst empfindet, trinke er selbst in dieser Jahreszeit kalt. Nur sorge man dafür, daß er sich sein Wasser selbst und zwar langsamen Schrittes aus einiger Entfernung holen muß. Durch die voraussichtliche Kälte wird er, wenn er beim Wasser ankommt, hinreichend abgekühlt sein, um es ohneGefahr trinken zu können. Die Hauptsache aber bleibt, daß man diese Vorsichtsmaßregel trifft, ohne daß er etwas davon merkt. Ich wünschte lieber, daß er bisweilen krank wäre, als daß er fortwährend auf seine Gesundheit Acht gäbe.
Die Kinder müssen lange schlafen, weil sie sich außerordentlich viel Bewegung machen. Eines dient als Correctiv des Andern; auch lehrt die Erfahrung, daß sie ein Bedürfniß nach Beiden haben. Die Zeit der Ruhe ist die Nacht; die Natur selbst hat sie dazu bestimmt. Es ist eine völlig zuverlässige Beobachtung, daß der Schlaf ruhiger und süßer ist, so lange sich die Sonne unter dem Horizonte befindet, und daß wir uns bei der durch ihre Strahlen erhitzten Luft nicht einer eben so tiefen Ruhe erfreuen. Daher ist es gewiß eine sehr ersprießliche Gewohnheit, sich mit der Sonne schlafen zu legen und wieder aufzustehen. Daraus folgt, daß in unserem Klima der Mensch so wie alle Thiere im Allgemeinen das Bedürfniß haben, im Winter länger zu schlafen als im Sommer. Da nun aber einmal das bürgerliche Leben nicht einfach und natürlich genug, nicht frei genug von Veränderungen und Zufällen ist, darf man freilich den Menschen nicht bis zu dem Grade an diese Gleichmäßigkeit gewöhnen, daß sie ihm zur Notwendigkeit würde. Unstreitig muß man bestimmten Regeln folgen, aber als Hauptregel muß doch gelten,
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