Emil oder Ueber die Erziehung
Kinder gewandt oder unbeholfen, schwerfällig oder behend, leichtsinnig oder überlegend macht.
Da also der Mensch mit seinen ersten natürlichen Bewegungen den Zweck verfolgt, sich mit seiner ganzen Umgebung zu messen, und an jedem Gegenstande, den er gewahrt, alle die sinnlichen Eigenschaften zu prüfen, die auf ihn Bezug haben können, so ist sein erstes Studium eine Art Experimentalphysik, welches lediglich seine eigene Erhaltung im Auge hat und von dem man ihn durch speculative Studien abzieht, bevor er noch seine Stellung hienieden erkannt hat. So lange noch seine zarten und geschmeidigen Organe im Stande sind, sich nach den Körpern zu richten, auf welche sie einwirken sollen, so lange noch seine klaren Sinne von Illusionen frei sind, ist es die rechte Zeit, beide in den ihnen eigenthümlichen Functionen zu üben; ist es die rechte Zeit, die sinnlich wahrnehmbaren Beziehungen, in welchen die Körperwelt zu uns steht, kennen zu lernen. Da Alles, was in den menschlichen Verstand eindringt, durch die Sinne in ihn gelangt, so ist der erste Verstand des Menschen ein sinnlicher Verstand. Unsere ersten Lehrer der Philosophie sind unsere Füße, unsere Hände, unsere Augen. An Stelle derselben Bücher setzen, heißt nicht, uns vernünftig urtheilen lehren, es heißt vielmehr uns anhalten, uns auf den Verstand Anderer zu verlassen, heißt uns anleiten, viel zu glauben und nie etwas zu wissen.
Um eine Kunst zu üben, muß man damit anfangen, daß man sich die dazu nöthigen Werkzeuge anschafft, und um diese Werkzeuge nützlich anwenden zu können, muß man sie so haltbar machen, daß sie beim Gebrauche nicht zerbrechen. Um denken zu lernen, müssen wir folglich unsere Glieder, unsere Sinne, unsere Organe üben, welche die Werkzeuge unseres Verstandes sind, und um aus diesen Werkzeugen den größtmöglichen Vortheil zu ziehen, mußder Körper, der sie zur Verfügung stellt, kräftig und gesund sein. Weit entfernt also, daß sich der wahre Verstand des Menschen unabhängig vom Körper entwickelt, macht gerade erst die gute Constitution des Körpers die Operationen des Geistes leicht und sicher.
Indem ich mich nachzuweisen bemühe, wozu man die lange Muße der Kindheit anwenden soll, lasse ich mich auf Einzelheiten ein, die vielleicht lächerlich erscheinen werden. Ein seltsamer Unterricht, wird man mir einwenden, der sich nach deiner eigenen Kritik darauf beschränkt, das zu lehren, was Niemand erst zu lernen braucht! Weshalb die Zeit mit Belehrungen verschwenden, die doch regelmäßig von selbst kommen und weder Mühe noch Sorgfalt verlangen? Welches zwölfjährige Kind weiß nicht alles das, worin du das deinige unterrichten willst, und außerdem noch das, was es dem Unterrichte seiner Lehrer zu verdanken hat?
Sie irren sich, meine Herren! Ich lehre meinen Zögling eine sehr zeitraubende und schwierige Kunst, die den ihrigen sicherlich fremd ist, nämlich die Kunst nichts zu wissen, denn der Wissensschatz desjenigen, der nur das zu wissen glaubt, was er wirklich weiß, beschränkt sich auf gar wenige Gegenstände. Sie behaupten, Wissenschaft mitzutheilen. Ich will mir das gefallen lassen. Ich dagegen beschäftige mich nur mit dem zur Erwerbung derselben geeigneten Werkzeuge. Man erzählt sich, daß, als die Venetianer einem spanischen Gesandten einst ihren Schatz von Sanct Marcus unter Entfaltung einer großen Pracht zeigten, sich dieser jedes Beifallswortes enthielt, statt dessen unter den Tisch blickte und zu ihnen äußerte: » Qui non c’é la radice. « (Hier ist aber seine Wurzel nicht.) So oft ich einen Lehrer sehe, der seinen Schüler sein geringes Wissen auskramen läßt, vermag ich kaum der Versuchung zu widerstehen, ihm dasselbe zuzurufen.
Alle diejenigen, welche über die Lebensweise der Alten nachgedacht haben, schreiben ihren gymnastischen Uebungen jene körperliche und geistige Gewandtheit zu; durch welche sie sich vor der heutigen Menschheit so sichtlich auszeichnen. Die Art und Weise, wie Montaigne diese Ansicht unterstützt,beweist, in wie hohem Grade er von ihrer Wahrheit erfüllt war; unaufhörlich und auf tausenderlei Weise kommt er darauf zurück. Bei Besprechung der Erziehung eines Kindes sagt er: »Um seinen Geist zu kräftigen, muß man seine Muskeln stärken. Durch Gewöhnung an die Arbeit gewöhnt man es an den Schmerz; man muß es mit den ermüdenden Anstrengungen der Leibesübungen vertraut machen, um es gegen die Schmerzen der Verrenkungen, der Kolik und aller sonstigen Leiden
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