Emil oder Ueber die Erziehung
abzuhärten.« Der weise Locke, der treffliche Rollin, der gelehrte Fleury, der pedantische de Croupas stimmen Alle, wie verschiedenen Grundsätzen sie auch im Uebrigen huldigen, doch in diesem einen Punkte überein, daß die körperliche Ausbildung der Kinder unter keinen Umständen vernachlässigt werden darf. Dies ist die verständigste ihrer Vorschriften, und trotzdem diejenige, welche am meisten übersehen wird und immer übersehen werden wird. Ueber ihre Wichtigkeit habe ich mich schon zur Genüge ausgesprochen, und da man darüber keine bessern Gründe und keine verständigern Regeln geben kann, als die Locke in seinem erwähnten Buche aufführt, so begnüge ich mich, auf dasselbe zu verweisen, während ich mir gleichzeitig die Freiheit nehme, seinen Beobachtungen noch einige eigene hinzuzufügen.
Die Glieder eines noch im Wachsthume begriffenen Körpers dürfen nur von bequemen und weiten Kleidungsstücken bedeckt sein; nichts darf ihre Bewegung und ihr Wachsthum stören; nichts darf zu eng sein, nichts zu fest an den Körper anschließen, nichts durch Binden znsammengepreßt werden. Ist die französische Kleidung schon für Erwachsene unbequem und ungesund, so ist sie für Kinder geradezu verderblich. Die stockenden und in ihrer Circulation gehemmten Säfte bleiben fast stehen, was vor allen Dingen bei einer unthätigen und sitzenden Lebensweise die größten Leiden hervorruft, ja sie verderben und erzeugen den Scorbut, eine Krankheit, die unter uns von Tage zu Tage häufiger auftritt, während sie den Alten fast ganz unbekannt war, da ihre Art sich zu kleiden und zu leben sie dagegen schützte. Die jetzt so häufige Husarenkleidung hilft diesem Uebelstande nicht ab, sondern vermehrt ihneher; dafür daß sie den Kindern einige Bänder erspart, schnürt sie ihnen den ganzen Körper zusammen. Am meisten empfiehlt sich, sie so lange als möglich in einem Kinderröckchen gehen zu lassen, ihnen alsdann recht weite Kleidungsstücke zu geben und nicht darauf auszugehen, ihren schlanken Wuchs bemerkbar zu machen, was nur zu ihrer Entstellung beiträgt. Ihre leiblichen wie geistigen Mängel wurzeln fast alle in einer und derselben Ursache: man will sie vor der Zeit zu Erwachsenen machen.
Es gibt heitere Farben und düstere Farben; erstere sagen dem Geschmack der Kinder mehr zu; sie stehen ihnen auch besser, und ich sehe nicht ein, weshalb man einen so natürlichen Zug nicht beachten sollte. Allein von dem Augenblicke an, wo sie einem Stoffe nur um deswillen den Vorzug geben, weil er reicher ist, haben sich ihre Herzen schon dem Luxus und allen Launen eingesogener Vorurtheile ergeben, und dieser Geschmack hat sich sicherlich nicht in ihnen selbst gebildet. Man darf wahrlich den Einfluß nicht unterschätzen, welchen die Wahl der Kleider und die Motive zu dieser Wahl auf die Erziehung ausüben. Nicht nur versprechen blinde Mütter ihren Kindern allerlei Putzsachen als Belohnung, sondern man hört sogar, wie unverständige Erzieher ihren Zöglingen mit einem groben und einfachen Gewande wie mit einer Strafe drohen: »Wenn du nicht besser lernst, wenn du deine Kleidungsstücke nicht besser schonst, wird man dich wie jenen kleinen Bauerburschen anziehen.« Das ist eben so viel, als ob man ihnen sagte: »Wisse, daß der Mensch nur durch seine Kleider etwas gilt, und daß dein Werth von den deinigen abhängig ist.« Darf man dann in Erstaunen gerathen, wenn solche weise Lehren bei der Jugend einen dankbaren Boden finden, wenn in ihren Augen nur der Putz Werth verleiht, und sie das Verdienst nur nach dem Aeußeren beurtheilen?
Wenn ich einem in dieser Hinsicht verdorbenen Kinde den Kopf wieder zurecht zu setzen hätte, so würde ich dafür Sorge tragen, daß seine reichsten Kleider zugleich die unbequemsten wären, und daß es sich in denselben stets beengt, eingezwängt und auf tausenderlei Weise behindertfühlte. Ich würde es so einrichten, daß Freiheit und Frohsinn vor seiner äußeren Pracht fliehen müßten. Wollte es sich in die Spiele anderer, einfacher gekleideter Kinder mischen, müßte Alles aufhören, Alles sofort verschwinden. Kurz ich würde es so langweilen, ihm seinen Putz so verekeln, es in so hohem Grade zum Sklaven seines goldbetreßten Rockes machen, daß ihm derselbe wie eine Geißel seines Lebens erschiene und daß es das dunkelste Gefängniß mit weniger Schrecken als seinen glänzenden Putz erblicken sollte. So lange wir dem Kinde unsere Vorurtheile noch nicht eingeimpft haben, besteht sein
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