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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Selbstverständlich kann nicht die Rede davon sein, es durch Gewalt zur Thätigkeit anzuspornen, sondern es handelt sich nur darum, es durch irgend eine Neigung dazu anzutreiben. Und wird diese Neigung richtig aufgefaßt und nach der natürlichen Ordnung geleitet, so führt sie uns gleichzeitig zwei Zielen entgegen.
    Ich kann mir nichts vorstellen, wofür man nicht bei einiger Geschicklichkeit den Kindern Geschmack, ja sogar Leidenschaft einflößen könnte, ohne ihre Eitelkeit, ihren Wetteifer und ihre Eifersucht zu erregen. Ihre Lebhaftigkeit, ihr Nachahmungstrieb genügen; vor Allem bietet ihr natürlicher Frohsinn ein sicheres Mittel dar, auf dessenBenutzung jedoch noch nie ein Lehrer verfallen ist. Bei allen Spielen, von denen sie sich überzeugt halten können, daß es nur Spiele sind, erdulden sie ohne Klage, ja selbst unter munterem Gelächter Schmerzen, die sie sonst nie ertragen würden, ohne Ströme von Thränen zu vergießen. Langes Fasten, Schläge, Brandwunden, Strapazen jeglicher Art gelten in den Augen junger Wilden für Belustigungen, ein Beweis, daß selbst der Schmerz seine Würze hat, welche ihm seine Bitterkeit zu benehmen vermag. Indeß darf man freilich nicht allen Lehrern die Kenntniß zutrauen, solche würzhafte Speisen zuzubereiten, und vielleicht verstehen auch nicht alle Schüler sie ohne Grimassen recht zu genießen. – Doch halt! Ich gerathe, wenn ich mich nicht in Acht nehme, aufs Neue in Gefahr, mich in Ausnahmen zu verirren!
    Was indeß keine Ausnahme erleidet, ist die leidige Erfahrung, daß der Mensch dem Schmerze, den Uebeln seines Geschlechts, allerlei Unglücksfällen und Lebensgefahren und endlich dem Tode unterworfen ist. Je vertrauter man ihn mit diesen Ideen machen wird, desto mehr wird man ihn auch von der bedrückenden Empfindlichkeit heilen, die zu dem Uebel an sich noch die Ungeduld im Ertragen hinzufügt; je vertrauter man ihn mit den Leiden macht, welche ihn treffen können, desto mehr benimmt man denselben, wie Montaigne gesagt haben würde, den Stachel ihrer Fremdartigkeit, und desto unverwundbarer und abgehärteter wird man dadurch auch seine Seele machen; sein Körper wird der Panzer sein, an dem alle Pfeile abprallen, die sein Leben bedrohen könnten. Da die Annäherung des Todes noch nicht der Tod selbst ist, so wird er diesen auch schwerlich als solchen empfinden; er wird gleichsam nicht sterben: er wird lebendig oder todt sein, und weiter nichts. Von ihm hätte der oben erwähnte Montaigne sagen können, was er von einem Kaiser von Marocco gesagt hat, daß kein Mensch so vollkommen bis an die Grenzscheide des Todes gelebt habe. Die Liebe zur Beständigkeit und Festigkeit wie zu allen übrigen Tugenden wird in der Kindheit eingeflößt; aber das geschieht nicht dadurch, daß man die Kinder mit ihren Namen bekannt macht, sonderndaß man sie Gefallen an denselben finden läßt, ehe sie sie noch kennen.
    Da aber einmal vom Sterben die Rede ist, welches Verhalten wollen wir unseren Zöglingen gegenüber hinsichtlich der durch die Blattern drohenden Gefahr beobachten? Wollen wir sie ihm gleich im frühesten Lebensalter einimpfen lassen, oder abwarten, ob er die natürlichen bekomme? Ersteres, was der heutigen Sitte entspricht, schützt dasjenige Lebensalter vor der Gefahr, in welcher das Leben den höchsten Werth hat, während es das, in welchem es weniger kostbar ist, der Gefahr geradezu aussetzt, wenn überhaupt eine richtig ausgeführte Impfung eine Gefahr genannt werden kann. [28]
    Letzteres steht jedoch mehr mit unseren allgemeinen Grundsätzen in Einklang, die darauf ausgehen, überall die Natur bei ihren Zwecken ihre eigenen Wege gehen zu lassen, von denen sie sich bei menschlicher Einmischung nur zu leicht zurückzieht. Der Mensch der Natur ist beständig vorbereitet. Möge diese große Meisterin selbst die Impfung übernehmen. Sie wird den richtigen Augenblick besser als wir zu wählen wissen.
    Man ziehe hieraus jedoch nicht den Schluß, daß ich das Impfen mißbillige; denn der Grund, aus welchem ich meinen Zögling damit verschonen will, würde auf die eurigen keine Anwendung finden. Eure Erziehung bereitet sie nicht vor, die Blattern, wenn sie von ihnen befallen werden, glücklich zu überstehen. Wenn ihr den Ausbruch derselben dem Zufalle überlaßt, werden sie wahrscheinlich daran sterben. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man sich in den einzelnen Ländern dem Impfen um so mehr widersetzt, je mehr sich die Notwendigkeit dazu herausstellt; und der

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