Emil oder Ueber die Erziehung
trennen kann, so gehört viel Zeit dazu, um richtig sehen zu lernen. Wir müssen die Eindrücke des Gesichtssinnes lange mit denen des Gefühls verglichen haben, um den ersten dieser beiden Sinne daran zu gewöhnen, uns einen treuen Bericht über die Gestalten und Entfernungen abzustatten. Ohne das Gefühl, ohne die fortschreitende Bewegung vermöchten uns auch die schärfsten Angen von der Welt keine Idee vom Raume beizubringen. Für eine Auster muß das ganze Weltall nur ein Punkt sein, und es würde derselben auch nicht anders erscheinen, selbst wenn eine menschliche Seele sie unterrichtete. Nur durch Gehen, Tasten, Zählen, Messen lernt man die Ausdehnungen schätzen; aber wenn man auch beständig Messungen vornähme, so würde doch der Sinn, falls er sich nur auf das Instrument verließe, sich keine Sicherheit und Genauigkeit erwerben. Das Kind muß auch nicht sofort vom Messen zum Abschätzen übergehen; zum Anfange muß es, während es fortfährt das, was es nicht im Ganzen zu vergleichen vermag, theilweise zu vergleichen, an die Stelle der Theile, welche es durch Messung erhalten hat, solche setzen, welche ein Ergebniß seiner Abschätzung sind, und sich, anstatt das Maß immer mit der Hand anzulegen, daran gewöhnen, sich dabei lediglich seiner Augen zu bedienen. Indeß wünschte ich, daß man die ersten Versuche desselben durch wirkliche Messungen prüfte, damit es seine Irrthümer verbessern könnte, und daß es, wenn in dem Sinne etwa noch eine Täuschung vorhanden ist, dieselbe durch ein besseres Urtheil berichtigen lernte. Man hat natürliche Maße, die sich fast überall gleich bleiben, nämlich die Schritte eines Mannes, die Spannweite seiner Arme, seine Größe. Wenn das Kind die Höhe eines Stockwerks schätzt, so kann ihm sein Hofmeister als Maßstab dienen; schätzt es dagegen die Höhe eines Thurmes, so berechne es ihn nach der Höhe der Häuser; will es die Meilenzahl eines Weges wissen, so gehe es von der Zahl der Stunden aus, die man auf Zurücklegung desselben verwenden muß. Vor allen Dingen thue man dabei nichts für das Kind, sondern lasse es Alles selbst thun.
Ueber die Ausdehnung und Größe der Körper kann man nicht richtig urtheilen lernen, wenn man nicht auch ihre Gestalten kennen und sogar bildlich wiedergeben lernt; denn im Grunde beruht diese Nachbildung schlechterdings nur auf den Gesetzen der Perspective, und man ist nicht im Stande, die Ausdehnung nach dem bloßen äußeren Scheine abzuschätzen, wenn man nicht ein gewisses Verständniß von diesen Gesetzen hat. Die Kinder, die von einem starken Nachahmungstrieb beseelt sind, versuchen Alles zu zeichnen. Ich wünschte, daß mein Zögling diese Kunst eifrig triebe, nicht gerade um der Kunst selbst willen, sondern um einen sicheren Blick zu erlangen und seine Hand geschmeidig zu machen. Im Allgemeinen kommt es sehr wenig darauf an, ob er diese oder jene Kunst versteht, wofern er sich nur die Schärfe des Sinnes und die körperliche Gewandtheit erwirbt, welche uns diese Uebung zu verleihen vermag. Ich werde mich deshalb auch sehr hüten, ihm einen Zeichenlehrer zu geben, welcher ihn nur Nachbildungen nachbilden und Zeichnungen abzeichnen lassen würde. Mit meinem Willen soll er keinen anderen Lehrer als die Natur, keine andere Vorbilder als die Gegenstände selbst haben. Er soll das Original selbst vor Augen haben und nicht das Papier, auf welchem es dargestellt ist. Ein Haus soll er nach einem Hause, einen Baum nach einem Baume, einen Menschen nach einem Menschen zeichnen, damit er sich gewöhne die Körper und die Gestalt, unter welcher sie uns erscheinen, genau zu beobachten und nicht falsche und herkömmliche Abbildungen für richtige Darstellungen anzusehen. Ich werde ihn sogar abhalten, etwas, ohne den Gegenstand vor Augen zu haben, rein aus dem Gedächtnisse zu zeichnen, bis zu dem Augenblicke, wo sich die Umrisse desselben durch häufige Beobachtungen seiner Einbildungskraft fest eingeprägt haben, aus Besorgniß, er könne dadurch, daß er bizarre und phantastische Figuren an Stelle der wahren Formen der Dinge setze, die Kenntniß der Verhältnisse und den Geschmack an den Schönheiten der Natur verlieren.
Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt, daß er auf diese Weise viel Papier verderben wird, bevor er einen Gegenstanderkennbar darzustellen im Stande ist; daß er sich erst spät die Eleganz der Contouren und den leichten Pinselstrich des Malers erwerben und es vielleicht niemals zu der Fähigkeit bringen wird, die
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