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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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malerischen Effecte richtig zu beurtheilen, ja daß es ihm vielleicht stets an dem guten Geschmack im Zeichnen fehlen wird; dafür wird er indeß sicherlich einen schärferen Blick, eine sichrere Hand, die Kenntniß der wahren Größen– und Formenverhältnisse der Thiere, Pflanzen und Naturkörper, sowie eine richtigere Behandlung der Perspective erlangen. Und gerade darauf war ich ausgegangen; meine Absicht ist nicht sowol, daß er die Gegenstände nachbilden, als daß er sie vielmehr kennen lerne. Ich will zufrieden sein, wenn er im Stande ist, mir eine Akanthuspflanze zu zeigen, und will ihm dann gern vergeben, wenn er die Akanthusblätter am korinthischen Säulenkapitäl auch nicht vollendet schön zeichnen kann.

    Uebrigens verfolge ich dabei keine andere Absicht, als daß diese Uebung wie alle übrigen meinem Zöglinge nur Vergnügen bereiten sollen. Ich will sie ihm dadurch nur noch um so angenehmer zu machen suchen, daß ich unausgesetzt daran Theil nehme. Er soll keinen anderen Nebenbuhler als mich haben; werde ich es auch ununterbrochen sein, so wird es ihm dennoch nicht zum Nachtbeil gereichen; dies wird seinen Beschäftigungen ein gewisses Interesse einflößen, ohne Eifersucht zwischen uns zu erregen. Ich werde den Bleistift gerade so wie er halten und Anfangs eben so ungeschickt führen. Und wäre ich ein Apelles, so würde ich mich ihm gegenüber doch nur als einen elenden Farbenkleckser zeigen. Zuerst werde ich einen Mann zeichnen, wie ihn wol die Diener an die Wände malen: ein Strich stellt jedes Bein, ein Strich jeden Arm vor, und die Finger übertreffen die Arme an Dicke. Erst lange nachher fällt dem Einen oder dem Andern von uns dieses Mißverhältniß auf. Wir bemerken, daß ein Bein eine gewisse Dicke hat und daß diese Dicke nicht überall gleich ist; daß die Länge des Armes in einem ganz bestimmten Verhältnisse zu dem Körper steht u.s.w. Bei diesen Fortschreiten werde ich höchstens gleichen Schritt mit ihm halten oder ihn doch nur in geringem Gradeübertreffen, daß es ihm stets leicht werden wird, mich einzuholen oder mich wol gar zu überflügeln. Darauf nehmen wir Farben und Pinsel; wir bemühen uns das Colorit der Gegenstände und ihre ganze äußere Erscheinung eben so gut wie ihre Gestalten wieder zugeben. Wir werden austuschen, malen, sudeln; aber bei allen unseren Sudeleien werden wir nicht aufhören, die Natur zu belauschen; wir werden nie anders als unter den Augen dieser Meisterin arbeiten.
    Wir waren um Ausschmückung unseres Zimmers in Verlegenheit; jetzt fehlt es uns nicht mehr daran. Ich lasse unsere Zeichnungen einrahmen, lasse sie mit schönem Glase bedecken, damit sie nicht berührt werden können, und damit Jeder von uns, da er sieht, daß sie unverändert in dem Zustande bleiben, in welchem sie unter unserer Bleifeder oder unserem Pinsel hervorgegangen sind, ein Interesse daran habe, seine Arbeiten nicht zu vernachlässigen. Ich hänge sie in bestimmter Ordnung im Zimmer ringsherum auf, jede Zeichnung zwanzig-, dreißigmal wiederholt und an jedem Exemplare den Fortschritt seines Zeichners von dem Augenblicke an nachweisend, wo das Haus fast nur ein unförmliches Viereck war, bis dahin, wo seine Façade, seine Seitenansicht, seine Verhältnisse, seine Schatten in vollster Wahrheit hervortreten. Es ist nicht anders möglich, als daß diese Abstufungen uns stets solche Bilder vorhalten, die für uns selbst interessant, für Andere sehenswerth sind und uns zu immer regerem Wetteifer anspornen. Die ersten, ungeschicktesten dieser Zeichnungen erhalten sehr prächtige, reich vergoldete Rahmen, durch welche sie hervorgehoben werden; sobald aber die Abbildung genauer wird und die Zeichnung wirklich gut ist, so gebe ich ihr nur einen ganz einfachen schwarzen Rahmen. Jetzt ist sie sich selbst der höchste Schmuck und bedarf keiner anderen Verzierung mehr; es würde Schade sein, wenn die Einfassung die Aufmerksamkeit, welche der Gegenstand allein verdient, zum Theil auf sich lenkte. Deshalb strebt Jeder von uns nach der Ehre eines schmucklosen Rahmens; und wenn Einer von uns über die Zeichnung des Anderen seinen Tadel aussprechen will, so verurtheilt er sie zur Strafedes goldenen Rahmens. Vielleicht werden diese goldenen Rahmen eines Tages unter uns zum Sprichwort, und wir werden uns wundern, wie viele Menschen sich Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem sie solche Rahmen für ihre Gemälde wählen.
    Ich habe oben die Behauptung aufgestellt, daß die Geometrie für das

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