Emil
und Blut trat aus der Wunde. Dann stand er auf, ging ins Badezimmer, legte das Buch nur einen Moment lang auf die Waschmaschine, ging hinaus. Das Blut löste sich im Wasser auf, floss durchs Becken ab. Und da war der Junge schon aufgewacht.
Sie setzten sich zum Schabbatmahl, während das Buch weiter auf dem Rand der Waschmaschine ruhte, manchmal bis zum Ausgang des Schabbat, um dann auf seinen Platz im Regal zurückzukehren bis zum folgenden Freitag, eher noch bis zu irgendeinem Freitag viele Wochen später, denn die Woche darauf wählte Joel ein anderes Buch, um damit in den Freitagabend zu gleiten, doch fast immer endeten die Bücher auf dem Rand der Waschmaschine neben den Zahnseidebehältern und den Zahnbürsten, einschließlich der Zahnbürste Leas, die Joel nie in den Müll zu werfen gewagt hatte. Wie könnte ich, wie könnte ich?, dachte er. Sie nehmen und entsorgen? Gerade heute? Und dann? Fast zwanzig Jahre blieb sie an ihrem Platz. Bis sie eines Tages verschwunden war. Und Joel sagte kein Wort, obwohl er vor Wut kochte. Das ganze Haus durchsuchte er nach ihr. Unter der Waschmaschine. In jedem Zimmer. Stieg auf die Leiter. Drehte die Matratze um. Klopfte auf die Schränke. Wühlte zwischen den Gabeln. Es half nichts. Nichts half.
Manchmal kehrte er ohne Buch ins Wohnzimmer zurück, schlief eine halbe Stunde lang wie ein Stein, und Emil sagte ihm dann beim Aufwachen, Wie lang du geschlafen hast, und Joel protestierte, nein, nein, er sei nicht eingeschlafen, er habe nur einen Moment lang die Augen geschlossen, habe über etwas nachgedacht … Doch schon lasteten die Schatten auf der Wohnung, und jemand musste aufstehen, um das Licht einzuschalten, und aus einer Entfernung von einigen Metern sahen sie einander im Wohnzimmer an, minutenlang, der eine ein-, der andere ausatmend, als atmeten sie gleichzeitig dieselbe, sich zwischen ihnen auftürmende Luft. Dann erhob sich Joel, wie ein Reisender in einem Nachtzug mit schlafverklebten Augen sein Gepäck zusammensucht, seinen Mantel an dem Haken neben dem Fenster vergisst, das sich in Bewegung zu setzen scheint, während er sich allzu langsam durch den Korridor drängt, und hinter ihm der Junge, den er einen Augenblick lang fast vergessen hatte, er stellte die Salatschüssel auf den Tisch, schnitt zwei genau gleich große Stücke des Erbsen-Bohnen-Auflaufs, den er meist donnerstags zubereitete, weil er gelesen hatte, grüne Hülsenfrüchte seien ein hervorragender Fleischersatz. Gern legte er dazu die CD von Shlomo Artzi ein, leise, aber nicht allzu leise, und sie setzten sich zu Tisch. Joel hielt im Kauen inne, wandte den Kopf zur Stereoanlage. Sein Lieblingslied war
Die Verfolgten
. Einmal brach er, während er mit Shlomo Artzi, auf der CD natürlich, mitsang, ohne erkennbaren Grund in Tränen aus. Er fasste die Absicht, Shlomo Artzi einen Brief zu diesem Lied zu schreiben, schrieb dann tatsächlich einen ausführlichen Brief, sandte ihn aber niemals ab. Immer näher kam das Lied, er wusste genau, wann es so weit sein würde. Deswegen aß er mit Bedacht, als könnte sein Schlucken die Musik stören, und auch Emil fühlte, dass er nun im Essen innehalten sollte, dass sein Vater es von ihm erwarte, doch er war hungrig und lud sich noch Salat und Auflauf auf den Teller und kaute geräuschvoll am Salat. Später würde Emil ausgehen, um im Stadtzentrum Schawarma zu essen, und Joel sagte plötzlich: Und was wäre, wenn es mich nicht mehr gäbe? Jenseits des Fensters waren Wolken, gelbe, graue, weiße. Als die Musik aus war, blickte Joel die Stereoanlage eine Weile erwartungsvoll an, dann richtete er seinen Blick wieder auf Emil. Morgen treffe ich deine Eltern, deine biologischen Eltern, sagte Joel, wollte er sagen, sagte aber kein Wort. Am Meer. Unten in den Straßen der Stadt waren ganze Familien zum Abendeinkauf unterwegs. Die Geschäfte waren offen. Überall brannte die Straßenbeleuchtung. Vollbeladene Einkaufswagen. Hauslieferungen auch in die weitere Umgebung.
Ein Häher hüpfte auf das Fenstersims, und Joel neigte den Kopf nach hinten und dachte, ›diese Tauben‹.
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In einem Film hatte er einmal gesehen, wie ein Mann vor einer Wand saß, und aus seinem Kopf zog sich ein Draht bis zur Wand, hielt inne, um sie dann mühelos zu durchqueren, schon war er im nächsten Zimmer angelangt, durchdrang noch dickere Wände, lief hinab, durch den Fußboden hindurch, durch Plafonds und Hindernisse, über offene, leere Flächen, riss die Wolken auf, bahnte sich einen
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