Emil
seinen Brüdern ablassend, trat er näher an das Bild heran. Lea, rief er aus dem Schlafzimmer, ohne zu bemerken, dass sie schon da stand. Lea, rief er laut. Was?, flüsterte sie aus der halboffenen Tür. Wer ist Uri?, fragte Joel, und seine Stimme war von einer leichten Panik erfüllt. Lea lachte laut auf. Joel warf sich aufs Bett zurück.
Aus dem Nebenzimmer hörte Emil sie beide lachen und stimmte mit ein.
Eines Tages, mehrere Wochen, nachdem Emil in die Schule zurückgekehrt war, rief die Lehrerin sehr aufgeregt an, wie wunderbar, wie bewegend, welch offensichtliches Wunder es sei, ihr Mann stamme ja aus einer religiösen Familie, welch göttliche Vorsehung. Joel, der im Lehnsessel eingeschlafen war, wobei ihm der erste Band von
Joseph und seine Brüder
als hartes Kopfkissen diente, gähnte in den Hörer hinein und sagte, Ja sicher, aber was genau meinen Sie? Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf? Und sie sagte: Was ist denn das für eine Frage, ›was meinen Sie‹? Dass sich herausgestellt hat, dass Ihre Frau nicht tot ist, und Joel verspürte einen Stich im Herzen: Herausgestellt habe es sich, so so. Der Klang seiner Stimme machte die Lehrerin stutzig. Es stellte sich heraus, dass Emil in der Schule allerlei Geschichten erzählte. Geschichten, die er sich ausgedacht hatte.
So hatte er erzählt, im Spital sei sie zunächst für tot erklärt worden, denn sie habe wirklich wie tot
ausgesehen
, doch plötzlich habe sie die Hand ausgestreckt und ein Glas Wasser verlangt, und Emil, der gerade dort gewesen sei, habe gerade ein Glas kaltes Wasser in der Hand gehalten und es ihr gereicht. Er hatte erzählt, dass sie Klavierlehrerin sei und ihren Schülern immer sage: Hier muss es wehtun. Wo hatte er das bloß her? Auch hatte er erzählt, dass sie mit einem Orchester in Schottland spiele und sein Vater Orchesterdirigent sei (Was? Auch das stimmt nicht?).
Noch viele andere Geschichten hatte Emil erzählt, von denen die Lehrerin nur einige wenige selbst gehört hatte. Andere hatten die Mitschüler vernommen. Den meisten jedoch lauschten nur die zwei Wände ›seiner‹ Ecke in der Schule, und der Sand, eingeschlossen in diesem rechten Winkel mit dem Scheitelpunkt hier und den Strahlen im Unendlichen. Da war die Geschichte von den Socken, die seine Mutter im Aufzug gerettet hatten, sie hatten sie nämlich hochgezogen, sodass sie im Augenblick des Aufpralls in der Luft schwebte. Bei anderer Gelegenheit hatte er auch behauptet, sie sei Fahrlehrerin und müsse deswegen oft weit weg fahren. Um den Schülern beizubringen, wie man steile Steigungen hochfährt. In Jerusalem. In Haifa. Oder Köchin in einem Restaurant am Nordpol. Die Geschichte mit den coolen Socken erzählte er nie wieder. Er vergaß sie. Doch Joel vergaß sie nicht. Lag eine ganze Weile auf dem Rücken. Ein Termin war ausgefallen, sodass sich plötzlich zwei Stunden aufgetan hatten. Er streifte seine Socken von den Füßen, die in Sandalen steckten. Es war halb Herbst, halb Frühling. Ein angenehmer Lufthauch liebkoste seine Zehen. Die Socken lagen verkehrt herum neben ihm auf dem Rasen und stanken. Der Schatten tanzte auf der Baumkrone und auf der Erde. Der Schatten tanzte auf Joel Sissus Armen. Er stellte die Sandalen auf die Socken, und Emils Geschichte fiel ihm ein, die nun neben jenem Engel hing. Wie ging das bloß? Es war einmal ein Junge … Der Junge wohnte in einem Haus … Der Junge hatte Socken … Der Junge hieß … Emil hatte coole Socken … Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie. An der Ferse ein Loch. Leer und umgestülpt lagen sie da unter der linken Sandale. Und als er den Blick nach rechts auf die andere Seite des Rasens wandte, war da Lea. Wider Erwarten war sie nicht zerschmettert. Auch nicht blutüberströmt. Doch Joel wusste, dass alle inneren Organe zerfetzt waren. Von der Wucht des Aufpralls. Acht Stockwerke. Tausend Mal war ihm der Aufprall durch den Kopf gegangen. Ob sie wohl nach oben geschleudert worden war. Manchmal werde man während des Falls vor Schreck ohnmächtig, hatte der Arzt ihn zu trösten versucht. Das Herz bleibe stehen, höre zu schlagen auf. Er streckte seine rechte Hand aus und legte sie in die ihre. Ihre Hand war genau so, wie er sie in Erinnerung hatte. Leas zarte Finger. Unverkennbar. Nicht dass seine Hand sehr groß war. Aber ihre war kleiner, ganz offensichtlich eine Frauenhand. Die Nägel mal zerbissen, mal manikürt. Jetzt gerade zerbissen. Er wusste, dass der Schmerz nicht vorbeigehen würde.
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