Emilia - Herzbeben
er in der Dunkelheit verschwand.
30
Ihr Herz war hart wie Stein und kalt wie Eis. So, wie in jedem Schuljahr. Verschlossen, um nicht verletzt zu werden. Doch dieses Mal hatte sie die Tür zu spät zugeschlagen. Es war zerrissen und blutete. Sie schlang die Arme um ihre Beine, während sie im Speisesaal gegen die Wand gelehnt am Boden saß und legte ihren Kopf auf ihre Knie. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so allein gefühlt. So vollkommen allein. Er war immer da gewesen. Auch, als sie noch nichts davon gewusst hatte, dass er ihr immer und überall wie ein Schatten folgte. Er war ein Teil von ihr. Ein Teil ihres Lebens. Und jetzt war er fort. Genauso wie ihre Mutter, ihr Vater und ihr Großvater. Sie waren alle weg. Verschwunden aus ihrem Leben. Sie hatten ein riesiges, schwarzes Loch in ihrer Seele zurückgelassen. Eine Leere, die sie völlig verzehrte. Alle, die zu ihr kamen, um sie zu trösten, schickte sie weg. Selbst Jona. Doch er blieb in ihrer Nähe. Er ließ sich nicht von ihren kalten Worten verscheuchen. Auf dem Schiff war es still geworden. Manche unterhielten sich noch, aber sie flüsterten, als wollten sie Mia nicht stören. Irgendwann kam Malina zu ihr. Auch sie verscheuchte sie mit den Worten: »Geh weg!« Aber sie ignorierte sie einfach und setzte sich neben sie auf den Fußboden.
»Er kommt wieder«, sagte sie.
»Ich will nicht, dass er wiederkommt«, sagte Mia leise.
Malina seufzte. »Ja, und du willst, dass wir alle aus deinem Leben verschwinden, weil du uns unglücklich machst und in Gefahr bringst. Diese Leier kenne ich schon. Sie rattert in deinem Kopf rauf und runter.«
Mia drehte den Kopf und sah sie mit ihren verweinten Augen wütend an.
»Bei allem Respekt, Prinzessin«, sagte Malina, »aber ich finde, du solltest dich, bei allem, was diese Menschen hier für dich tun, nicht so gehen lassen!«
Mia versenkte ihren Kopf wieder in ihren Armen.
»Auf diesem Schiff sind über hundert Menschen, die dich beschützen wollen und Kell und ich riskieren unser Leben für dich!«
»Ich habe nicht darum gebeten«, sagte Mia kalt.
»Nein«, seufzte Malina, »aber es gibt Menschen, denen dein Schutz wichtig ist, weil sie dich lieben. Deine Eltern, Walt, Ramon, Jona …«
Mia zuckte zusammen.
»Für deine Unversehrtheit tun sie alles. Dein Vater will sogar sein Leben dafür opfern. Aber anstatt all diese Bemühungen anzuerkennen und wertzuschätzen, verspottest du sie und ihre Gefühle und alles, was ihnen wichtig ist, indem du dich gehen lässt und jede Hilfe von dir stößt.«
Als sie mit ihrer Rede fertig war, sah Mia sie wieder an. »Wie soll ich einen Selbstmord wertschätzen?«, fragte sie mechanisch. »Er hilft mir damit nicht, sondern zerstört meine Seele und mein Leben. Soll ich ihm dafür noch danken?«
»Es geht hier nicht nur um deinen Vater, sondern um uns alle. Auch um Ramon. Es wäre schön, wenn du uns zeigen könntest, dass unsere Bemühungen nicht umsonst sind. Dass deine Mutter nicht umsonst die letzten 16 Jahre in Angst und dauerhaftem Stress gelebt hat, um dir ein angstfreies Leben zu bescheren. Dass dein Vater nicht umsonst all diese Weisheiten an dich weitergegeben hat, um dich irgendwann einmal glücklich zu sehen und dass unser Streben, dich zu schützen und aufzuheitern, nicht völlig fruchtlos ist. All unsere Bemühungen drehen sich nur um dein Glück, Mia und du trittst sie mit Füßen, verschließt dein Herz und stößt alle vor den Kopf.«
Der Raum füllte sich jetzt wieder. Nadja und Emma stellten sich an den Tisch, an dem Jona saß, Jan, Mike und Patrick kamen herein und auf der anderen Seite betrat eine Traube von Schülern, die Mia nicht kannte, gemeinsam mit Alva den Raum. Alle sahen sie an.
Mia senkte beschämt den Kopf. Es gefiel ihr zwar nicht, aberMalina hatte recht. Mit allem. Es war undankbar hier herum zu sitzen, sich zu verschließen und Trübsal zu blasen. Sie gaben sich so viel Mühe. Und was tat sie? Sie jammerte, heulte und war wütend, weil ihr das, was sie taten, was er tat, nicht gefiel. Weil es nicht ihren Ansprüchen genügte und nicht ihrer Vorstellung von Schutz und Glück entsprach. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie undankbar sie wirklich war und wie unfair sie sich verhielt. Ihre Familie opferte sich für sie auf und ihr war es nicht genug. Sie wollte sie bei sich haben, um nicht allein zu sein, anstatt zu versuchen die Situation allein zu meistern, damit sie stolz sein konnten. Nur auf diese Weise konnte sie ihnen die
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