Emilia - Herzbeben
zwischen den Gärten hindurch, blieb an manchen Abzweigungen stehen, um zu überlegen, wo sie langlaufen sollte und wählte immer den Weg, von dem sie glaubte, dass er sie am weitesten von der Schule weg führte. Und dabei konnte sie einfach nicht aufhören zu weinen. Sie bemerkte den leichten Nebel zunächst nicht, der mit einer dünnen Schicht den Boden bedeckte. Sie lief einfach nur. Weg von der Schule, weg von ihren Freunden und weg aus ihrem neuen, chaotischen Leben. Sie wollte am liebsten alles rückgängig machen. Die Zeit zurückdrehen und mit ihren Eltern ihr altes Leben weiterführen. Das war ihr hundert Mal lieber, als eine Wahrheit zu kennen, die sie nicht ertrug. Sie war nicht das Kind des Teufels! Und sie war auch nicht übersinnlich. Sie war ein ganz normales Mädchen, das niemand mochte. Warum gab ihr nicht irgendjemand ihr altes Leben zurück?
Als endlich ein Weg aus der Gartensiedlung führte, rannte sie über eine Wiese, dann über noch einen Weg und schließlich über weichen Boden. Erst dann blieb sie stehen. Schwer atmend blickte sie nach unten und erschrak. Nebel schien aus dem dunklen Boden aufzusteigen. Er ging ihr bereits bis zu den Knöcheln. Und er stieg von Sekunde zu Sekunde mehr an. Dann hob sie den Kopf und stellte mit Entsetzen fest, dass sie mitten auf einem Feld stand. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf. Sie schoben sich wie eine schwarze Decke über das Feld. Blitze waren darin zu sehen und ein tiefes Grollen drang aus ihrer Dunkelheit. Es ging alles so schnell. Der Nebel stieg hinauf bis zu ihrer Hüfte und war schon bald auf Schulterhöhe. Dann fing es an zu regnen. Mia wandte sichum, doch sie konnte bereits den Weg nicht mehr sehen. Die Bäume waren verschwunden und die Häuser auch. Sie erinnerte sich daran, was ihr Großvater gesagt hatte und lief dennoch los. Wenn sie nur weit genug zurück lief, würde sie sicher bald wieder bei den Gärten sein, dachte sie sich. Doch in dem Moment hörte sie hinter sich ein tiefes, kehliges Knurren. So tief, dass es in ihren Knochen bebte. Sie blieb stehen. Der Nebel verschluckte die Geräusche des Regens und des Windes. Es war fast still. Nur ihr hastiger Atem war zu hören. Und das Knurren. Es drang erneut an ihr Ohr. Doch dieses Mal war es näher. Viel näher. Langsam drehte sie sich um. Und sie hielt schon vor Schreck den Atem an, als sie die Dunkelheit nur aus dem Augenwinkel erkennen konnte.
Vor ihr bäumte sich etwas auf. Es war Schwarz wie die Nacht und so gewaltig, dass sie weit aufblicken musste. Es hatte keine Form, sondern schwebte wie ein riesiges, undurchsichtiges, schwarzes Etwas vor ihr. Doch Mia hatte keine Angst. Ihr Schrecken verflog mit jeder Sekunde, die verstrich. Stattdessen betrachtete sie es fasziniert. Sie glaubte das Bewusstsein dieses schwarzen Ungetüms zu spüren. Es fühlte sich vertraut an. So unheimlich vertraut. Sie trat einen Schritt darauf zu und streckte die Hand aus. Ihr Verstand schrie sie an: Lauf weg! Doch sie wollte ihn nicht hören.
Auf einmal zog sich der schwarze Nebel zusammen und verdichtete sich. Die formlose, schwarze Wolke bekam plötzlich Arme und Beine, einen Kopf und … Augen. Schwarze, glänzende Augen, die sie anstarrten. Bald hatte es die Form eines Menschen und sie glaubte Konturen in seinem Gesicht erkennen zu können. Wangenknochen, einen Mund, eine Nase. Und dann streckte es ebenfalls die Hand nach ihr aus. Mia fühlte sich zu diesem Wesen hingezogen. Wie ein Magnet zog es sie zu sich. Es erschreckte sie nicht im Geringsten. Es war ihr so vertraut und nah. Es war wie sie. Dunkel. Böse. Unheilvoll. Sie wollte ihm nahe sein, mit ihm verschmelzen. Doch, als sich ihre Finger berührten, hörte sie eine Stimme. Sie fuhr sofort panisch herum.
»Jona«, hauchte sie. Erst jetzt erinnerte sie sich an die Bilder aus ihrer Vision. Ihr Verstand schaltete sich wieder ein. Lauf! , schrie er sie an. Lauf! Und dann rannte sie ohne noch einen Augenblick zuzögern los. Ihr Herz hämmerte ängstlich gegen ihre Brust. »Jona!!«, schrie sie.
Seine Stimme klang schwach. Heiser. Er rief sie mit erstickter Stimme, ohne Luft zu holen. Sein Herz polterte unregelmäßig in seiner Brust. Sie konnte es hören.
»JONA!!«, schrie sie so laut sie konnte in den dichten Nebel. »JONA!« Sie folgte den Geräuschen. Den kläglichen Atemversuchen und dem Herzrasen. Und dann sah sie ihn. Er kauerte nach Luft ringend am Boden, seine Schultern bewegten sich hektisch auf und ab und sein ganzer Körper zitterte.
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