Emily, allein
das Problem ignoriert. Wenn überhaupt, dann war sie zu argwöhnisch, und das war erst der Anfang gewesen. Von da an hatte sie mit Margaret tagtäglich Auseinandersetzungen wegen Kleidung, Jungen, Schulnoten und dem Rauchen gehabt, bis Margaret, zu ihrer aller Erleichterung, aufs College ging und nur der viel einfachere Kenneth zurückblieb, der es allen recht machen wollte und dessen schlechte Gewohnheiten und Sehnsüchte offenkundig waren. Auch mit ihm hatte es Streitereien gegeben, doch nicht allzu oft, und schlimmstenfalls hatte sie seine Geringschätzung zu spüren bekommen, aber niemals Hass.
Darüber hatte sie oft nachgedacht, da sie in diesem Alter dieselbe vernichtende Wut gegen ihre eigene Mutter gerichtet hatte. Irgendwann - vielleicht als sie aus Kersey geflüchtet war und jene lähmende Welt hinter sich gelassen oder als sie eine eigene Familie gegründet hatte - war es ihr gelungen, ihre Wut zu begraben. Emily befürchtete, dass Margaret dazu nicht imstande gewesen war und genau das - nämlich sie selbst, allein durch ihre Existenz - hinter allen Problemen Margarets steckte. Louise hatte gesagt, Emily würde sich noch damit verrückt machen, herausfinden zu wollen, warum Margaret so war, wie sie war, da sie wusste, dass es Emilys Wesen entsprach, auch der geringsten Kleinigkeit auf den Grund zu gehen.
Sie hatte es versucht. Sie hatte Kompromisse geschlossen, zugehört, gewartet, gebetet. Sie hatte Margaret Geld geliehen - Zehntausende von Dollars -, vielleicht war das dumm gewesen, doch sie konnte es begründen, indem sie sagte, sie habe es für die Kinder getan. Rückblickend war nicht so leicht zu sagen, ob ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt waren. War Sarah allein in Chicago glücklich, wie Margaret behauptete? Gefiel es Justin an der Universität? Emily konnte es nicht beurteilen. Sie wusste nicht einmal genau, ob Margaret wirklich trocken war, obwohl diese Annahme die Grundlage ihrer Beziehung darstellte.
Nach all der Arbeit, die ich mir mache, dachte Emily und packte einen weiteren Karton voll Flaschen, sollte es lieber so sein. War sie hartherzig? Überreizt? Warum löste der bloße Gedanke an Margarets Besuch all diese Fragen aus? Sollte sie nicht einfach froh sein, dass sie kam?
Das Bedauerliche war, dass es die beste Zeit im Jahr war, um nach der Nachspeise noch eine Weile am Tisch sitzen zu bleiben und sich ein Schlückchen zu genehmigen, wie Henry es formuliert hatte. Mit Weihnachten verband sie den schaumigen, süßen Genuss eines Eggnogs und die atemberaubenden Rumkugeln ihrer Großmutter Waite. Jetzt, wo Sarah volljährig war, hätte sie ihr zum Abendessen gern Wein angeboten, aber auch das konnte sie vergessen.
Die Mixbecher und die Gläser ließ sie stehen. Der letzte Karton war ein Sammelsurium aus Viertelliterflaschen, Minifläschchen und Henrys vielen Flachmännern, die zu ihrer Bestürzung alle poliert werden mussten. Vorsichtig schleppte sie den Karton die Treppe hinunter und stellte ihn auf die anderen neben Henrys Werkbank. Sie konnte nicht widerstehen nachzuzählen - acht Kartons voller Schnaps. Gestapelt wie beschlagnahmtes Beweismaterial, schien das Ganze Margarets Behauptung zu untermauern, doch Emily wusste es besser. Es hatte Jahrzehnte gedauert, so viel Alkohol anzuhäufen, und obwohl sie gelegentlich noch gern einen Schluck trank, würden die meisten Flaschen sie überdauern. Das war kein großer Verlust. Henry würde wollen, dass Kenneth seinen Scotch bekam. Alles Übrige hatte nicht diesen ideellen Wert.
Im obersten Karton befand sich ein gewölbter Flachmann mit eingravierten Initialen, den sie Henry vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie nahm ihn heraus und hielt ihn ins Licht, um sein filigranes Äußeres zu bewundern. Schmal wie ein Zigarettenetui, hatte er perfekt in die Gesäßtasche seiner Lieblingscordhose gepasst. Er hatte ihn auf ihren Herbstspaziergängen im Park dabeigehabt oder wenn er in Chautauqua in der Garage an etwas herumbastelte. An den Winterabenden, an denen sie in Panther Hollow um ein Feuer saßen, in dem kaputte Paletten brannten, und den Kindern an dem Ort, an dem sie oft als Verliebte gewesen waren, beim Schlittschuhlaufen zusahen, gab er den Flachmann erst ihr und tat dann so, als würde er die Öffnung mit dem Ärmel sauber wischen. An Wochenenden und im Urlaub legte er ihn abends immer mit seiner Hamilton-Uhr, einem weiteren eleganten Accessoire, auf seine Kommode. Alkohol war für sie nur ein zusätzliches, gepflegtes
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