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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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führen. Egal, wie arm sie waren, die Mütter erlaubten ihren Kindern nicht, mit zerrissener oder schmutziger Kleidung vor die Tür zu gehen (Margaret hatte sich als Jugendliche geweigert, das zu begreifen oder anzuerkennen, was viel Geschrei nach sich zog).
    Emily fürchtete sich nicht so sehr vor der Armut wie vor dem Verlust von Chancen. Ihr Vater, der davon geträumt hatte, Architekt zu werden, hatte wegen Geldmangels die Schule verlassen müssen. Er hatte einigermaßen auskömmlich fünfundvierzig Jahre als Bauinspektor gearbeitet und die Visionen anderer Leute genehmigt. Sie hatte nie ein bitteres Wort von ihm gehört, doch als sie nach dem Tod ihrer Mutter seinen Schreibtisch aufräumte, fand sie zwischen seinen Druckbleistiften und Stempeln Kartonröhren voll mit hochfliegenden, komplizierten Plänen für ein Gerichtsgebäude, die er entworfen hatte. In der Legende stand die Jahreszahl 1931, das Jahr ihrer Geburt, zehn Jahre, nachdem er von der Schule abgegangen war, und sie stellte sich vor, wie er abends nach Hause kam und - in Kersey, mitten in der Weltwirtschaftskrise - dieses protzige Denkmal für das Zweite Kaiserreich hervorzauberte, obwohl er wusste, dass es nie gebaut werden würde.
    Emily ging es nicht darum, dass ihre Kinder reich oder gar beruflich erfolgreich waren. Sie wollte, dass sie gegenüber anderen und sich selbst ihre Pflicht erfüllten, das war alles. Beide waren so vielversprechend (Emily war überzeugt, dass sie sich da nicht irrte), und doch wirkten sie so unglücklich und gaben sich so leicht geschlagen. Obwohl sie ganz unverhohlen skeptisch war, ob Kenneth je vom Fotografieren leben könnte, begriff sie, dass es seine Leidenschaft war. Niemand war so bestürzt gewesen wie sie, als er urplötzlich, als sei die Zeit dafür um, beschlossen hatte, das Fotografieren ganz aufzugeben, und sich darauf gestürzt hatte, für Lisas Vater Werbeplatz zu verkaufen, eine Aufgabe, für die er offensichtlich keine Begabung besaß. Er wusste, dass er sein Talent vergeudete. Das wurde klar, wenn sie telefonierten, die Berichte von seinem Arbeitstag gespickt mit selbstironischen Scherzen. Sie ermutigte ihn, wieder zur Kamera zu greifen, was ihm wie eine Kehrtwende von ihrem früheren Standpunkt vorkommen musste. Wenn man ihn zu etwas drängte, ging er in die Defensive, was sie als Unmut deutete - über sie und den Job. Vielleicht änderte sich das Ganze, wenn die Kinder mit dem College fertig waren, doch im Augenblick war das seine Lösung.
    Margaret hatte nie ihre wahre Berufung entdeckt. Wie viele andere aus ihrer Generation hatte sie das Studium abgebrochen, ein Fehler, den Emily für ihre späteren Probleme verantwortlich machte. Seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr hatte sie in East Lansing herumgehangen, als Kellnerin oder Barkeeperin gearbeitet und sich mit Freundinnen, deren Geld gleichermaßen fragwürdiger Herkunft war, und einer langen Reihe von Männern, die verschwunden waren, bevor sie jemand kennenlernen konnte, enge Wohnungen geteilt. Mit dreißig hatte sie Jeff kennengelernt und die nächsten zwanzig Jahre als nicht immer engagierte Vollzeithausfrau verbracht. Jetzt, allein in ihrem früheren Haus, arbeitete sie als Empfangsdame in einem Vorortkrankenhaus, wo ihr Status als ehemalige Alkoholikerin kein Problem war. Die Scheidung war fair vonstatten gegangen. Sie hatte das Haus bekommen, war jetzt aber allein für die Hypothek verantwortlich. Trotz der Unterhaltszahlungen und ihres Lohnschecks konnte sie oft die monatlichen Kosten nicht begleichen, und Emily musste aushelfen.
    Wie Emily von Anfang an erkannt hatte, lag das Hauptproblem darin, dass sie über ihre Verhältnisse lebten. Sie und Henry hatten nicht in dem Haus in der Grafton Street angefangen. Das war ein Traum gewesen. Sie hatten gespart und Verzicht geübt, obwohl ihnen Henrys Eltern das Geld mühelos hätten leihen können. Als neuester Ingenieur in seiner Abteilung hatte Henry Schichten übernommen, die kein anderer wollte, und möglichst viele Überstunden geleistet. Bei Westinghouse florierte das Geschäft, und das hieß, dass Emily manchmal wochenlang allein zu Abend aß und ins Bett ging, doch da sie streng haushielten, hatten sie bald genug Geld für eine Anzahlung zusammen und bekamen eine Hypothek. Erst da, als sie sich ein schönes Haus leisten konnten, begannen sie, Einkäufe zu machen.
    Wenn sie diese Geschichte erzählte, fragte eins ihrer Kinder unweigerlich: «Ja, aber wie viel hat ein Haus denn damals

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