Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
niedergeschlagen, auf den Heimweg. Ich konnte aus meiner kleinen Herrin nicht herauskriegen, wie sie den Tag verbracht hatte, nur, dass das Ziel ihrer Wallfahrt, wie ich vermutet hatte, die Felsenklippe von Penistone gewesen war. Sie war ohne Abenteuer an der Pforte des Gutshofes angelangt, als zufällig Hareton mit einer Meute von Hunden herauskam, die ihren Tross angriffen; es gab einen heldenhaften Kampf, bevor ihre Besitzer sie trennen konnten, und das bildete einen Anknüpfungspunkt. Catherine erzählte Hareton, wer sie sei und wohin sie reite; sie bat ihn, ihr den Weg zu zeigen, und überredete ihn schließlich, sie zu begleiten. Er erschloss ihr die Geheimnisse der Feengrotte und zwanzig anderer seltsamer Orte; doch da ich in Ungnade war, wurde mir keine Beschreibung der interessanten Dinge, die sie gesehen hatte, gegönnt. Ich entnahm jedoch ihren Worten, dass ihr Führer bei ihr in Gunst gestanden hatte, bis sie seine Gefühle dadurch verletzte, dass sie ihn wie einen Dienstboten behandelte, und Heathcliffs Haushälterin sie dadurch gekränkt hatte, dass sie Hareton als ihren Vetter bezeichnete. Überdies wurmte sie die Art, wie er mit ihr gesprochen hatte; sie, die bei uns von allen immer nur ›mein Schatz‹ und ›Liebling‹ und ›Prinzesschen‹ und ›Engel‹ genannt wurde, war von einem Fremden so unerhört beleidigt worden! Das konnte sie nicht fassen, und es kostete große Mühe, ihr das Versprechen abzuverlangen, dass sie sich nicht bei ihrem Vater darüber beschweren werde. Ich erklärte ihr, wie sehr er gegen die Bewohner des Gutes oben eingenommen sei und wie traurig es ihn machen würde, wenn er erführe, dass sie dort gewesen sei. Aber am meisten hielt ich ihr vor: wenn sie ihm meine Nachlässigkeit gegenüber seinen Befehlen verriete, werde er vielleicht so böse werden, dass ich meinen Dienst aufgeben müsste, und diese Aussicht konnte Cathy nicht ertragen; sie gab mir ihr Wort und hielt es mir zuliebe. Sie war trotz allem ein süsses kleines Ding.
Neunzehntes Kapitel
EIN BRIEF mit Trauerrand meldete den Ankunftstag meines Herrn. Isabella war tot, und er schrieb mir, dass ich für seine Tochter Trauersachen beschaffen und ein Zimmer nebst anderen Bequemlichkeiten für seinen jugendlichen Neffen herrichten sollte. Catherine war wie von Sinnen vor Freude bei dem Gedanken, ihren Vater wiederzusehen, und gab sich den zuversichtlichsten Hoffnungen über die unzähligen Vorzüge ihres ›richtigen‹ Vetters hin. Der Abend, an dem sie erwartet wurden, war gekommen. Vom frühen Morgen an war Cathy eifrig damit beschäftigt, ihre eigenen kleinen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, und jetzt, angetan mit ihrem neuen schwarzen Kleid — armes Ding, der Tod ihrer Tante machte ihr nicht allzuviel Eindruck — quälte sie mich ohne Unterlass, mit ihr den Erwarteten entgegenzugehen.
»Linton ist genau ein halbes Jahr jünger als ich«, plauderte sie, während wir gemächlich im Schatten der Bäume über das moosbewachsene hügelige Gelände dahinschlenderten. »Wie herrlich wird es sein, ihn zum Spielgefährten zu haben! Tante Isabella hat Papa einmal eine wunderschöne Locke von seinem Haar geschickt; es war heller als meines, mehr flachsblond und ebenso fein. Ich habe sie sorgfältig in einer kleinen Glasdose aufbewahrt, und oft habe ich gedacht, welche Freude es machen müsste, ihren Eigentümer zu sehen. Oh, ich bin glücklich — und Papa, lieber, lieber Papa! Komm, Ellen, wir wollen laufen! Komm, lauf!«
Sie lief und kam zurück und lief viele Male hin und her, ehe ich mit meinen gemäßigten Schritten die Pforte erreichte. Und dann setzte sie sich auf die Rasenbank am Wege und versuchte geduldig zu warten; aber das war unmöglich, sie konnte nicht eine Minute ruhig sitzen.
»Wie lange sie ausbleiben!« rief sie. »Oh, ich sehe auf der Landstraße Staub: sie kommen! Nein, doch nicht. Wann werden sie endlich hier sein? Können wir ihnen nicht ein kleines Stück entgegengehen, eine halbe Meile, Ellen, nur eine halbe Meile? Sag doch ja, bis zu der Birkengruppe an der Wegbiegung.«
Ich weigerte mich hartnäckig, und schließlich wurde ihrer Spannung ein Ende gemacht: die Reisekutsche kam in Sicht. Miss Cathy jauchzte und streckte ihre Arme aus, sobald sie ihres Vaters Gesicht am Wagenfenster entdeckte. Er stieg aus, fast so ungeduldig wie sie, und es verstrich eine beträchtliche Zeit, ehe die beiden einen Gedanken für andere übrig hatten. Während sie Zärtlichkeiten
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