Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
wünsche, dass er das Vergnügen nicht so lange aufschieben wollte, bis er sich von seiner Reise erholt hätte.
»Mein Vater?« rief er, merkwürdig erstaunt, »Mama hat mir nie gesagt, dass ich einen Vater habe. Wo lebt er? Ich möchte lieber bei meinem Onkel bleiben.«
»Er lebt nicht weit von hier«, erwiderte ich, »gerade hinter den Bergen dort, gar nicht weit; Sie können zu Fuß hierherkommen, wenn Sie kräftig geworden sind. Und Sie sollten froh sein, nach Hause zu kommen und ihn zu sehen. Sie müssen sich Mühe geben, ihn zu lieben wie Ihre Mutter, dann wird er Sie auch lieben.«
»Aber warum habe ich früher nichts von ihm gehört?« fragte Linton. »Warum haben Mama und er nicht zusammen gelebt wie andere Leute?«
»Er hatte Geschäfte, die ihn im Norden festhielten«, antwortete ich, »und Ihre Mutter musste ihrer Gesundheit wegen im Süden leben.«
»Und warum hat mir Mama nichts von ihm erzählt?« beharrte das Kind. »Sie hat oft von Onkel gesprochen, und ich habe ihn schon vor langer Zeit lieben gelernt. Wie soll ich Papa lieben? Ich kenne ihn nicht.«
»Ach, alle Kinder lieben ihre Eltern«, sagte ich. »Ihre Mutter hat vielleicht gedacht, Sie würden zu ihm wollen, wenn sie oft von ihm gesprochen hätte. Nun wollen wir uns aber beeilen. Ein Ritt in der Frühe, an einem schönen Morgen, ist weit besser, als eine Stunde länger zu schlafen.«
»Wird sie mitkommen«, fragte er, »das kleine Mädchen, das ich gestern gesehen habe?«
»Jetzt nicht«, entgegnete ich.
»Aber Onkel?« fuhr er fort.
»Nein, ich werde Sie hinbegleiten«, sagte ich.
Linton ließ sich auf sein Kissen zurückfallen und versank in dumpfes Brüten.
»Ich will nicht ohne Onkel gehen!« schrie er endlich. »Wer weiss, wo du mich hinschleppen willst.«
Ich versuchte ihm klarzumachen, wie unartig es sei, sich gegen eine Begegnung mit seinem Vater zu sträuben, und doch widersetzte er sich eigensinnig allen Bemühungen, ihn anzukleiden, und ich musste den Herrn zu Hilfe rufen, damit er ihn dazu brachte, aufzustehen. Das arme Kerlchen wurde schließlich nur dadurch herausgelockt, dass man ihm einredete, er werde nur kurze Zeit fort sein und Mr. Edgar und Cathy würden ihn besuchen. Ich erfand noch andere ebenso unbegründete Versprechungen und wiederholte sie während des ganzen Weges von Zeit zu Zeit immer wieder. Die reine, würzige Heideluft, der helle Sonnenschein und Minnys leichter Galopp linderten nach einer Weile seine Verzweiflung. Er fing an, mit grösserer Teilnahme und Lebhaftigkeit Fragen nach seinem neuen Heim und dessen Bewohnern zu stellen.
»Ist Wuthering Heights auch so schön wie Thrushcross Grange?« erkundigte er sich, drehte sich um und warf einen letzten Blick ins Tal, aus dem ein leichter Nebel aufstieg, der sich in Form einer flockigen Wolke gegen das Blau des Himmels abhob.
»Es liegt nicht so unter Bäumen verborgen«, erwiderte ich, »und es ist nicht ganz so groß, aber Sie können die ganze Gegend rundherum herrlich sehen, und die Luft ist gesünder für Sie, frischer und trockener. Sie werden das Gebäude im Anfang vielleicht alt und düster finden, und doch ist es ein ansehnliches Haus, das zweitbeste der Nachbarschaft. Und Sie können so schöne Streifzüge durchs Moor unternehmen. Hareton Earnshaw — das ist Miss Cathys anderer Vetter und dadurch gewissermaßen auch Ihrer — wird Ihnen die hübschesten Plätze zeigen. Und Sie können bei schönem Wetter ein Buch mitnehmen und können so eine grüne Schlucht zu Ihrem Arbeitszimmer machen. Und von Zeit zu Zeit kann Ihr Onkel sich Ihnen bei Ihren Spaziergängen anschließen; er wandert oft über die Berge.«
»Und wie sieht mein Vater aus?« fragte er. »Ist er ebenso jung und schön wie Onkel?«
»Er ist ebenso jung«, sagte ich, »aber er hat schwarze Haare und Augen und blickt finsterer, und er ist überhaupt grösser und breiter. Zuerst wird er Ihnen nicht so sanft und freundlich vorkommen, denn das ist nicht seine Art, aber achten Sie nur darauf, dass Sie offen und herzlich zu ihm sind, dann wird er Sie mehr lieben als jeder Onkel, weil Sie zu ihm gehören.«
»Schwarze Haare und Augen«, grübelte Linton. »Ich kann ihn mir nicht vorstellen. Ich sehe ihm also nicht ähnlich, nicht wahr?«
»Nicht sehr«, antwortete ich, ›nicht die Spur‹, dachte ich und musterte mit Bedauern die weisse Gesichtshaut und den schmächtigen Körperbau meines Gefährten und seine großen, glanzlosen Augen; es waren die Augen seiner Mutter, nur dass
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