Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
wünsche den Herrn zu sprechen.
»Erst werde ich ihn fragen, was er will«, sagte ich, sehr bestürzt. »Eine recht ungewöhnliche Stunde, um Leute zu belästigen, noch dazu, wenn sie gerade von einer langen Reise zurückgekehrt sind. Ich glaube nicht, dass der Herr für ihn zu sprechen ist.«
Joseph war während meiner Worte durch die Küche gekommen und stand nun in der Vorhalle. Er hatte seinen Sonntagsanzug an, und seine Miene war so scheinheilig und süsssauer wie nur möglich. Er hielt seinen Hut in der einen und seinen Stock in der anderen Hand und fing an, seine Stiefel auf der Matte zu reinigen.
»Guten Abend, Joseph«, sagte ich kühl. »Was bringt dich zu so später Stunde her?«
»Mit’m Herrn Linton hab ich zu reden«, sagte er, mich verächtlich beiseite schiebend.
»Mr. Linton geht gerade zu Bett. Wenn du ihm nicht etwas Besonderes zu sagen hast, wird er dich jetzt sicherlich nicht anhören«, fuhr ich fort. »Du solltest dich lieber hersetzen und mir deinen Auftrag anvertrauen.«
»Wo is sein Zimmer?« beharrte der Bursche und musterte die Reihe geschlossener Türen.
Ich merkte, dass er von meiner Vermittlung nichts wissen wollte, darum ging ich widerstrebend zur Bibliothek hinauf, meldete den ungelegenen Besucher und riet, ihn bis zum nächsten Morgen abzuweisen. Mr. Linton hatte jedoch keine Zeit, mich dazu zu ermächtigen, denn Joseph folgte mir dicht auf den Fersen, schob sich in das Zimmer, pflanzte sich am anderen Ende des Tisches auf, beide Hände auf den Knauf seines Stockes gestützt, und begann in erhabenem Ton, so, als ob er einem Widerspruch zuvorkommen wollte: »Heathcliff hat mich nach sei’m Jungen geschickt, un ich darf nich ohn ihn zu Hause kommen.«
Eine Weile schwieg Mr. Linton; ein tiefer Kummer prägte sich in seinen Zügen aus. Das Kind hätte ihm schon um seiner selbst willen leid getan; wenn er aber an Isabellas Hoffnungen und Befürchtungen, an ihre ängstlichen Wünsche für ihren Sohn dachte und wie sie ihn seiner Obhut anvertraut hatte, war er ernstlich beunruhigt bei dem Gedanken, ihn aufgeben zu müssen, und überlegte im Innern, wie das vermieden werden könnte. Er sah keinen Weg. Wenn er auch nur durchblicken ließe, dass er ihn zu behalten wünschte, würden Heathcliffs Ansprüche noch entschiedener werden; es blieb nichts anderes übrig, als ihm zu entsagen. Doch wollte er ihn nicht aus dem Schlaf wecken.
»Sage Mr. Heathcliff«, antwortete er ruhig, »dass sein Sohn morgen nach Wuthering Heights kommen wird. Er ist zu Bett gegangen und ist zu müde, jetzt den weiten Weg zu gehen. Du kannst ihm auch erzählen, dass Lintons Mutter gewünscht hat, er solle unter meiner Obhut bleiben, und im Augenblick ist seine Gesundheit sehr angegriffen.«
»Nee«, sagte Joseph, stiess mit seinem Stock auf den Fußboden und setzte eine gebieterische Miene auf, »nee, das taugt nix, Heathcliff macht sich nix aus der Mutter un aus Ihnen auch nix; aber er will sei’n Jungen ham, un ich wer’n mitnehm’, dass Sie’s nur wissen.«
»Heute abend wird das nicht geschehen«, entgegnete Linton entschieden. »Geh sofort hinunter und wiederhole deinem Herrn, was ich gesagt habe. Ellen, geleite ihn hinunter, geh!«
Und indem er den entrüsteten alten Mann durch ein Heben des Armes hinauswies, gelang es ihm, ihn loszuwerden und die Tür hinter ihm zu schließen.
»Na, is gut!« schrie Joseph, als er sich langsam zurückzog. »Morgen kommt’r selber, dann könn Sie ihn rausschmeiss’n, wenn Sie’s wagen.«
Zwanzigstes Kapitel
UM DIE AUSFÜHRUNG dieser Drohung zu verhindern, trug mir Mr. Linton auf, den Jungen recht früh auf Catherines Pony nach Wuthering Heights hinaufzubringen, und fügte hinzu:
»Da wir weder im Guten noch im Bösen Einfluss auf sein Geschick haben, darfst du meiner Tochter nicht sagen, wohin er gegangen ist. Sie kann in Zukunft doch nicht mit ihm zusammenkommen, und es ist besser für sie, wenn sie nicht weiss, dass er so nahe ist, denn sie würde nur unruhig werden und würde ihn in Wuthering Heights besuchen wollen. Erzähle ihr nur, sein Vater habe plötzlich nach ihm geschickt, und da hätte er uns verlassen müssen.«
Linton war sehr ungehalten darüber, dass er schon um fünf Uhr aus dem Bett geholt wurde, und war erstaunt, als ihm gesagt wurde, er müsse sich wieder für eine Reise zurechtmachen. Ich milderte das ein wenig durch die Nachricht, er werde einige Zeit bei Mr. Heathcliff, seinem Vater, zubringen, der ihn so sehr zu sehen
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