Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
austauschten, warf ich einen Blick in den Wagen, um nach Linton zu sehen. Er schlief in einer Ecke, in einen warmen, pelzgefütterten Mantel gehüllt, als wäre es Winter. Ein blasser, zarter, mädchenhafter Knabe, den man für den jüngeren Bruder meines Herrn hätte halten können, so groß war die Ähnlichkeit, doch lag in seinen Zügen eine ungesunde Grämlichkeit, die Edgar Linton nie gehabt hatte. Mein Herr sah, wie ich den Jungen betrachtete, und nachdem er mir die Hand geschüttelt hatte, gab er mir den Rat, die Wagentür zu schließen und ihn nicht zu stören, denn die Reise habe ihn ermüdet. Cathy hätte gern einen Blick hineingeworfen, aber ihr Vater forderte sie auf, mitzukommen, und sie gingen zusammen durch den Park, während ich voraneilte, um das Gesinde vorzubereiten.
»Mein Liebling«, sagte Mr. Linton zu seiner Tochter, als sie am Fuße der Freitreppe stehenblieben, »dein Vetter ist nicht so kräftig und nicht so vergnügt wie du; du musst bedenken, dass er seine Mutter erst vor kurzer Zeit verloren hat; darum musst du nicht erwarten, dass er gleich mit dir spielt und umherläuft. Und plage ihn nicht zu sehr mit deinem Geschwätz; lass ihn wenigstens heute abend in Ruh, ja?«
»Ja, ja, Papa«, antwortete Catherine, »aber ich möchte ihn sehen, und er hat nicht ein einziges Mal herausgeschaut.«
Die Kutsche hielt an, und der Schläfer wurde geweckt und von seinem Onkel herausgehoben.
»Linton, das ist deine Kusine Cathy«, sagte er und legte ihre kleinen Hände ineinander. »Sie hat dich jetzt schon gern; und, hörst du, du darfst sie nicht betrüben, indem du heute abend weinst. Versuche jetzt, vergnügt zu sein; die Reise ist zu Ende, und du darfst dich jetzt erholen und dir die Zeit vertreiben, wie du Lust hast.«
»Dann lass mich zu Bett gehen«, antwortete der Junge, der vor Catherines Begrüssung zurückwich und seine Hände an die Augen führte, um hervorquellende Tränen wegzuwischen.
»Kommen Sie, seien Sie lieb«, flüsterte ich ihm zu, während ich ihn hineinführte. »Sie werden sie sonst noch zum Weinen bringen; sehen Sie, wie betrübt sie um Sie ist?«
Ich weiss nicht, ob es Sorge um ihn war, aber seine Kusine setzte ein ebenso trauriges Gesicht auf wie er und trat wieder zu ihrem Vater. Alle drei gingen hinauf in die Bibliothek, wo der Tee schon bereitstand. Ich machte mich daran, Linton die Mütze und den Mantel abzunehmen, und setzte ihn auf einen Stuhl am Tisch, doch kaum saß er, als er von neuem zu weinen begann. Mein Herr fragte, was ihm wäre.
»Auf einem Stuhl kann ich nicht sitzen«, schluchzte der Junge.
»Dann leg dich aufs Sofa, und Ellen wird dir etwas Tee bringen«, antwortete sein Onkel geduldig.
Wie sehr mochte er während der Reise von seinem verdriesslichen, kränklichen Schützling geplagt worden sein! Langsam schleppte sich Linton zum Sofa und legte sich nieder. Cathy holte eine Fußbank und setzte sich mit einer Tasse Tee neben ihn. Zuerst saß sie ruhig da, doch lange konnte sie das nicht aushalten. Sie hatte sich vorgenommen, aus ihrem kleinen Vetter eine Hätschelpuppe zu machen, so, wie sie es wünschte, und begann, seine Locken zu streicheln, seine Wangen zu küssen und ihm Tee aus ihrer Untertasse zu reichen, wie einem kleinen Kind. Das gefiel ihm, denn er war wirklich nur ein Kind; er trocknete seine Augen, und ein schwaches Lächeln erhellte sein Gesicht.
»Oh, er wird sich schon ganz gut herausmachen«, sagte mein Herr zu mir, nachdem er die beiden eine Weile beobachtet hatte. »Ganz gut, wenn wir ihn behalten können, Ellen. Die Gesellschaft eines gleichaltrigen Kindes wird ihm bald neuen Mut geben, und der Wunsch, Kraft zu gewinnen, wird ihn gesund werden lassen.«
›Vorausgesetzt, dass wir ihn behalten können‹, dachte ich bei mir, trübe Vorahnungen sagten mir, dass diese Hoffnung nur sehr schwach war. Und dann überlegte ich, wie in aller Welt dieser Schwächling in Wuthering Heights zwischen seinem Vater und Hareton leben sollte. Was für Spielgefährten und Erzieher wären sie ihm! Unsere Zweifel wurden sehr bald behoben, ja früher, als ich erwartet hatte. Ich hatte nach dem Tee die Kinder hinaufgebracht und war oben geblieben, bis Linton eingeschlafen war, vorher wollte er mich nicht fortlassen. Dann war ich wieder hinuntergegangen, stand nun eben in der Halle am Tisch und zündete eine Schlafzimmerkerze für Mr. Edgar an, als eine Magd aus der Küche kam und mir mitteilte, Mr. Heathcliffs Knecht Joseph sei an der Tür und
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