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Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)

Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)

Titel: Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Brontë
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sie, wenn sie nicht gerade in krankhafter Reizbarkeit aufflackerten, nichts von ihrem funkelnden Geist verrieten.
    »Wie merkwürdig, dass er niemals Mama und mich besucht hat«, murmelte er. »Hat er mich überhaupt gesehen? Aber dann muss ich noch ganz klein gewesen sein; ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn.«
    »Ei, Master Linton«, sagte ich, »dreihundert Meilen sind eine große Entfernung, und zehn Jahre erscheinen einem erwachsenen Menschen viel kürzer als Ihnen. Wahrscheinlich hat Mr. Heathcliff von einem Jahr zum anderen beabsichtigt, hinzukommen, hat aber nie eine passende Gelegenheit gefunden, und nun ist es zu spät. Quälen Sie ihn nicht mit Fragen darüber, das würde ihn unnötig ärgern.«
    Der Knabe war für den Rest des Rittes, bis wir vor der Gartenpforte des Gutshauses anhielten, vollauf mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich beobachtete den Ausdruck seiner Züge. Er musterte die Vorderwand des Hauses mit den Verzierungen und die tiefliegenden Fenstergitter, die wuchernden Stachelbeersträucher und verkrüppelten Kiefern mit gespannter Aufmerksamkeit, dann schüttelte er den Kopf. Seinem ganzen Wesen missfiel das Äussere seines neuen Wohnsitzes durchaus. Aber er war vernünftig genug, jetzt noch nichts darüber zu sagen; denn es konnte ja sein, dass das Innere des Hauses ihn dafür entschädigte.
    Noch ehe er vom Pferde stieg, öffnete ich die Tür. Es war halb sieben Uhr. Die Familie war gerade mit Frühstücken fertig; die Magd räumte das Geschirr weg und wischte den Tisch sauber; Joseph stand neben dem Stuhl seines Herrn und erzählte ihm eine Geschichte von einem lahmen Pferd, und Hareton machte sich fertig, um zum Heuen zu gehen.
    »Hallo, Nelly!« rief Mr. Heathcliff, als er mich sah. »Ich fürchtete schon, ich müsste hinunterkommen und mein Eigentum selbst holen. Du hast ihn gebracht, nicht wahr? Lass sehen, was sich damit anfangen lässt.«
    Er stand auf und ging zur Tür. Hareton und Joseph folgten, neugierig gaffend. Der arme Linton ließ einen erschrockenen Blick über die Gesichter der drei gleiten.
    »Gewisslich«, sagte Joseph nach einer ernsten Prüfüng, »hat er mit Ihn’ getauscht, Herr, un das dort is seine Tochter.«
    Heathcliff, der seinen Sohn durch sein Anstarren in qualvolle Verwirrung versetzt hatte, lachte höhnisch auf.
    »Lieber Gott, was für eine Schönheit! Was für ein niedliches, entzückendes Ding!« rief er aus. »Das ist wohl mit Schnecken und saurer Milch aufgezogen worden, Nelly? Gott verdamm mich! Aber das ist schlimmer, als ich erwartet hatte, und, weiss der Teufel, ich habe mir keine großen Hoffnungen gemacht.«
    Ich ließ das zitternde, bestürzte Kind absteigen und eintreten. Er verstand den Sinn der Worte seines Vaters nicht genau und wusste nicht, ob sie für ihn bestimmt waren, ja er war sich noch nicht einmal klar darüber, ob dieser finstere, spottende Fremde sein Vater sei. Er klammerte sich mit wachsender Bestürzung an mich an, und als Mr. Heathcliff sich setzte und ihm zurief: »Komm her!«, verbarg er sein Gesicht an meiner Schulter und weinte.
    »Pah, pah«, sagte Heathcliff, streckte seine Hand nach ihm aus, zog ihn roh zu sich heran, nahm ihn zwischen die Knie und hob sein Gesicht am Kinn hoch. »Lass den Unsinn! Wir werden dir nicht weh tun, Linton — so heisst du doch, wie? Du bist ganz und gar das Kind deiner Mutter. Wo ist mein Anteil an dir, du piepsendes Küken?«
    Er nahm dem Jungen die Mütze ab, strich ihm die dichten, flachsblonden Locken zurück und befühlte seine schlanken Arme und zarten Finger. Während dieser Untersuchung hörte Linton auf zu weinen und schlug seine großen blauen Augen zu dem Manne auf.
    »Kennst du mich?« fragte Heathcliff, nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Gliedmaßen alle gleich zerbrechlich und zart waren.
    »Nein«, sagte Linton mit einem Blick unverhüllter Angst. »Ich vermute, du hast von mir gehört?«
    »Nein«, entgegnete er wieder.
    »Nein? Welche Schande für deine Mutter, dass sie nie deine kindlichen Gefühle für mich geweckt hat. Du bist mein Sohn, das sage ich dir, und deine Mutter war ein boshaftes Frauenzimmer, dass sie dich in Unwissenheit darüber ließ, dass du einen solchen Vater hast. Nun, zuck nicht zusammen, und werde nicht rot, wenn es auch sehenswert ist, dass du nicht etwa weisses Blut hast. Sei ein guter Junge, und ich werde für dich sorgen. Nelly, wenn du müde bist, kannst du dich hinsetzen, wenn nicht, geh wieder nach Hause. Ich nehme an, du

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