Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
Catherine große Freude, auf den Baumstämmen herumzuklettern, in den Zweigen zu sitzen und sechs Meter über dem Erdboden zu schweben. Obwohl mir ihre Gewandtheit und ihre kindliche Leichtherzigkeit gefielen, hielt ich es doch für richtig, sie jedesmal auszuschelten, wenn ich sie in so luftiger Höhe entdeckte, doch so, dass sie merkte, sie brauchte nicht herunterzukommen. Vom Mittagessen bis zum Tee pflegte sie in ihrer vom Winde geschaukelten Wiege zu liegen und tat nichts anderes, als alte Lieder, die ich ihr als Kind beigebracht hatte, vor sich hin zu singen oder die Vögel, die in dem Baume lebten, zu beobachten, wie sie ihre Jungen fütterten und fliegen lehrten, oder sich mit geschlossenen Augen, halb sinnend, halb träumend, zusammenzukauern, glücklicher, als Worte es zu schildern vermögen.
»Sehen Sie, Miss«, rief ich, auf eine hohle Stelle unter den Wurzeln eines verkrümmten Baumes weisend, »dahin ist der Winter noch nicht gelangt. Dort drüben steht eine kleine Blume, die letzte Knospe aus der Menge blauer Glockenblumen, die im Juli den Rasenflächen dort einen bläulichen Schimmer gaben. Wollen Sie nicht hinüberklettern und sie pflücken, um sie Papa zu zeigen?«
Cathy starrte eine lange Zeit nach der einsamen Blüte, die im Schutz des Erdreichs zitterte, und erwiderte endlich: »Nein, ich will sie nicht anfassen; aber sieht sie nicht traurig aus, Ellen?«
»Ja«, bemerkte ich, »ungefähr so verhungert und kraftlos wie Sie selbst; Ihre Wangen sind ohne Blut. Kommen Sie, wir wollen uns an den Händen fassen und laufen. Sie sind so schwach, dass ich glaube, ich werde mit Ihnen Schritt halten können.«
»Nein«, wiederholte sie und schlenderte weiter, blieb von Zeit zu Zeit stehen und grübelte über einem Stück Moos oder einem Büschel fahlen Grases oder einem Pilz, dessen leuchtendes Gelb aus den Haufen braunen Laubes hervorschien. Dabei fuhr sie sich hin und wieder mit der Hand über ihr abgewandtes Gesicht.
»Catherine, warum weinen Sie, meine Liebe?« fragte ich, mich ihr nähernd und ihr den Arm um die Schultern legend. »Sie müssen nicht weinen, weil Papa erkältet ist; seien Sie dankbar, dass es nichts Schlimmeres ist.«
Jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und ihre Stimme war vom Schluchzen erstickt, als sie sagte: »Oh, es wird aber schlimmer werden. Und was soll ich tun, wenn Papa und du mich verlassen und ich ganz allein bleibe? Ich kann deine Worte nicht vergessen, Ellen, sie klingen mir immer im Ohr: wie anders das Leben sein, wie trübe die Welt werden wird, wenn ihr beide gestorben sein werdet.«
»Keiner kann wissen, ob Sie nicht vor uns sterben werden«, entgegnete ich. »Es ist nicht recht, den Teufel an die Wand zu malen. Wir wollen hoffen, dass noch viele, viele Jahre vergehen werden, ehe einer von uns abberufen wird; denn der Herr ist jung, und ich bin kräftig und noch nicht fünfundvierzig. Meine Mutter ist achtzig geworden und war bis zum Schluss munter und vergnügt. Und nehmen wir an, Mr. Linton würde bis zu seinem sechzigsten Jahr verschont bleiben, so wären es bis dahin mehr Jahre, als Sie zählen, Miss. Und ist es nicht närrisch, ein Unglück zwanzig Jahre im voraus zu betrauern?«
»Aber Tante Isabella war jünger als Papa«, bemerkte sie und blickte in der schüchternen Hoffnung auf weiteren Trost zu mir auf.
»Tante Isabella hatte weder Sie noch mich zur Pflege«, erwiderte ich. »Sie war nicht so glücklich wie der Herr, denn sie besaß nicht so viel, wofür es sich zu leben lohnte. Alles, was Sie zu tun haben, ist, Ihren Vater gut zu pflegen, ihn dadurch froh zu stimmen, dass er Sie fröhlich sieht, und alles zu vermeiden, was ihn aufregen könnte; bedenken Sie das wohl, Cathy. Ich will es nicht vor Ihnen verbergen, dass es ihn töten könnte, wenn Sie so unverständig und leichtsinnig wären, eine törichte, eingebildete Liebe für den Sohn eines Menschen zu nähren, der ihn gern im Grabe wüsste, und wenn Sie sich vor ihm anmerken ließen, dass Sie unter der Trennung leiden, die er nun einmal angeordnet hat.«
»Ich leide unter nichts auf der Welt als unter Papas Krankheit«, antwortete meine Begleiterin. »Im Vergleich mit Papa gilt mir nichts anderes etwas. Und ich werde nie, nie, oh, niemals, solange ich meine Sinne beisammen habe, etwas tun oder sagen, was ihn bekümmern würde. Ich liebe ihn mehr als mich selbst, Ellen, und das erkenne ich daran: ich bete jeden Abend, dass ich länger lebe als er, denn lieber möchte ich unglücklich
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