Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
das Unheil war bereits geschehen, als ich so lange oben in Wuthering Heights gesessen hatte. Am nächsten Tag musste ich das Bett hüten, und drei Wochen lang war ich ausserstande, meinen Pflichten nachzukommen, ein Zustand, den ich nie zuvor und — ich bin dankbar, es sagen zu können — niemals seither durchgemacht habe.
Meine kleine Herrin betrug sich wie ein Engel. Sie kam und pflegte mich und heiterte mich in meiner Einsamkeit auf. Meine Gefangenschaft drückte mich ungemein nieder. Es ist schwer für einen lebhaften, tätigen Menschen; aber viele haben mehr Grund zum Klagen, als ich damals hatte. Sobald Catherine Mr. Lintons Zimmer verließ, eilte sie an mein Bett. Ihr Tag war zwischen uns geteilt; keine Minute gehörte ihrem Vergnügen; sie vernachlässigte die Mahlzeiten, ihre Studien und ihre Spiele, und sie war die zärtlichste Pflegerin, die man sich denken konnte. Welch weiches Herz musste sie haben, dass sie, die ihren Vater so liebte, mir noch so viel Zeit opferte.
Ich sagte, ihre Tage waren zwischen uns geteilt; aber der Herr zog sich früh zurück, und ich brauchte gewöhnlich nach sechs Uhr nichts mehr; also hatte sie die Abende für sich. Armes Ding! Ich zerbrach mir nie den Kopf, was sie nach dem Tee mit sich anfing. Zwar fiel mir häufig, wenn sie mir gute Nacht sagen kam, die frische Farbe ihrer Wangen und die Röte ihrer schlanken Hände auf; aber anstatt darauf zu verfallen, dass das durch einen Ritt über das kalte Moor verursacht sein könnte, schob ich es auf das heisse Kaminfeuer in der Bibliothek.
Vierundzwanzigstes Kapitel
NACH DREI WOCHEN war ich imstande, mein Zimmer zu verlassen und mich im Hause zu bewegen. Als ich zum erstenmal abends aufblieb, bat ich Catherine, mir vorzulesen, da meine Augen schwach waren. Wir hielten uns in der Bibliothek auf, da der Herr zu Bett gegangen war. Sie willigte, wie mir schien, ziemlich widerstrebend ein, und da ich glaubte, meine Bücher passten ihr nicht, schlug ich ihr vor, sie sollte sich aussuchen, was sie lesen wollte. Sie wählte eines ihrer Lieblingsbücher aus und las etwa eine Stunde hintereinander. Dann begann sie Fragen zu stellen.
»Ellen, bist du nicht müde? Solltest du dich nicht lieber jetzt niederlegen? Es wird dir schaden, wenn du so lange aufbleibst, Ellen.«
»Nein, nein, meine Liebe, ich bin nicht müde«, erklärte ich immer wieder.
Als sie merkte, dass ich fest blieb, versuchte sie, auf eine andere Art zu zeigen, wie wenig ihr das Vorlesen zusagte. Sie fing an zu gähnen und sich zu recken.
»Ellen, ich bin müde.«
»Dann hören Sie auf. Wir wollen uns unterhalten«, antwortete ich.
Das war noch schlimmer; sie zog ein Gesicht und seufzte, sah nach der Uhr, bis es acht war, und ging schließlich in ihr Zimmer, nach ihrer stumpfen, schläfrigen Miene und dem ständigen Reiben ihrer Augen zu schließen, völlig vom Schlaf übermannt.
Am nächsten Abend schien sie noch ungeduldiger zu sein, und am dritten Abend nach meiner Genesung klagte sie über Kopfweh und ließ mich allein. Ich fand ihr Benehmen merkwürdig, und nachdem ich eine ganze Weile allein geblieben war, beschloss ich, sie zu fragen, ob es ihr besser ginge, und sie zu bitten, zu mir zu kommen und auf dem Sofa statt oben im Dunkeln zu liegen. Aber oben war keine Catherine zu entdecken und unten auch nicht. Die Dienstboten versicherten, sie nicht gesehen zu haben. Ich horchte an Mr. Edgars Tür: es war nichts zu hören. Ich kehrte in ihr Zimmer zurück, löschte meine Kerze und setzte mich ans Fenster.
Der Mond schien hell, eine leichte Schneedecke lag auf dem Boden, und ich überlegte, es sei ihr vielleicht in den Sinn gekommen, im Garten spazierenzugehen, um sich abzukühlen. Ich entdeckte eine Gestalt, die innen am Parkgitter entlang schlich, doch war es nicht meine junge Herrin. Als die Gestalt in den Bereich des Mondlichts kam, erkannte ich einen der Stalljungen. Er stand lange Zeit und blickte durch die Anlagen auf die Fahrstraße, dann lief er flink davon, als wenn er etwas entdeckt hätte, und erschien gleich darauf wieder, Miss Cathys Pony führend. Und da war sie selbst, eben abgestiegen, und ging neben ihm her. Der Bursche führte das Tier heimlich über das Gras in den Stall. Cathy stieg durch das Fenster des Wohnzimmers ein und schlüpfte lautlos herauf, wo ich sie erwartete. Sie schloss leise die Tür, streifte ihre schneebedeckten Schuhe von den Füssen und entledigte sich ihres Mantels, ohne meine Anwesenheit zu ahnen, als ich
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