Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
sondern in das mit dem Wandbett, dessen Fenster, wie ich schon erwähnte, breit genug ist, um einen Menschen durchzulassen. Ich schloss daraus, dass er eine neue mitternächtliche Wanderung plante, von der wir nichts merken sollten.
›Ist der Mann ein Dämon oder ein Vampir?‹ überlegte ich. Ich hatte gelesen, dass es solche zu Fleisch gewordene Dämonen gäbe. Und dann fing ich an, darüber nachzudenken, wie ich ihn als kleines Kind gepflegt hatte, wie ich ihn zum Jüngling hatte heranreifen sehen, wie ich fast seinen ganzen Lebenslauf hatte verfolgen können und wie töricht es war, diesem plötzlichen Angstgefühl nachzugeben. ›Aber wo kam er her, der kleine dunkle Knabe, den ein guter Mann zu seinem eigenen Verderben bei sich aufnahm?‹ flüsterte mir der Aberglaube beim Einschlafen ins Ohr. Und so begann ich mich im Halbschlaf mit der Frage nach seiner Herkunft herumzuquälen. Ich nahm meine Überlegungen aus dem wachen Zustand hinüber, verfolgte seinen Lebenslauf von neuem, und zwar mit schauerlichen Abweichungen, und sah schließlich sogar seinen Tod und sein Begräbnis vor mir. Davon ist mir nur im Gedächtnis geblieben, dass ich mich sehr mit einer Inschrift für seinen Grabstein herumquälte, die ich angeben sollte, und dass ich mit dem Totengräber darüber sprach. Da wir weder das Alter noch einen Familiennamen kannten, mussten wir uns mit dem einen Wort Heathcliff begnügen. Dieser Teil meines Traums hat sich bewahrheitet. Wenn Sie auf den Friedhof gehen, lesen Sie auf seinem Grabstein nur dieses eine Wort und das Datum seines Todes.
Das Morgengrauen gab mir meine Vernunft zurück. Ich stand auf und ging, sobald ich sehen konnte, in den Garten, um mir Gewissheit darüber zu verschaffen, ob Fußspuren unter seinem Fenster waren. Es waren keine da. ›Er ist zu Hause geblieben‹, dachte ich, ›und wird heute wieder auf dem Posten sein.‹ Ich machte Frühstück für uns alle, wie es meine Gewohnheit war, und bat Hareton und Catherine herein, ehe der Herr herunterkam, denn er blieb lange liegen. Sie zogen es vor, das Frühstück im Freien einzunehmen, und ich setzte ihnen einen kleinen Tisch dorthin, um es ihnen behaglich zu machen.
Beim Hereinkommen fand ich Mr. Heathcliff unten vor. Er sprach mit Joseph über eine Angelegenheit des Gutes; er gab klare, genaue Anweisungen in der betreffenden Sache, aber er sprach sehr schnell und drehte dauernd den Kopf nach der Seite, auch hatte er den gleichen aufgeregten Gesichtsausdruck, ja er war eher noch aufgeregter als am Tage zuvor. Als Joseph das Zimmer verlassen hatte, setzte er sich auf seinen gewohnten Platz, und ich stellte eine Tasse Kaffee vor ihn hin. Er zog sie näher heran, dann stützte er die Arme auf den Tisch und sah auf die gegenüberliegende Wand. Mir schien, dass er nur eine bestimmte Stelle im Auge behielt; seine ruhelosen, glitzernden Augen glitten mit solch glühender Eindringlichkeit daran auf und nieder, dass ihm für eine halbe Minute sogar der Atem stockte.
»Nun, kommen Sie«, rief ich und schob das Brot vor seine Hand, »essen und trinken Sie etwas, solange der Kaffee heiss ist; er steht schon eine Stunde da.«
Er nahm mich überhaupt nicht wahr, und doch lächelte er. Ich hätte es lieber gesehen, dass er mit den Zähnen geknirscht, als dass er auf diese Weise gelächelt hätte.
»Mr. Heathcliff! Lieber Herr! Um Gottes willen, sehen Sie nicht aus, als hätten Sie eine überirdische Vision!«
»Um Gottes willen, schrei nicht so laut!« erwiderte er. »Sieh dich um und sage mir, ob wir allein sind.«
»Natürlich«, war meine Antwort, »natürlich sind wir allein!« Trotzdem gehorchte ich ihm unwillkürlich, als wäre ich meiner Sache nicht ganz sicher. Mit einer Handbewegung schaffte er einen freien Platz zwischen seinem Frühstücksgeschirr und beugte sich vor, um besser sehen zu können.
Ich merkte jetzt, dass er nicht die Wand ansah; denn als ich ihn betrachtete, schien es mir genauso, als ob er etwas anblickte, das zwei Meter von ihm entfernt war. Und was es auch sein mochte, es schien ihm zugleich ausserordentliche Freude und großen Schmerz zu verursachen; jedenfalls brachte mich sein gequälter und doch verzückter Gesichtsausdruck auf diesen Gedanken. Der Gegenstand seiner Betrachtung schien nicht an der gleichen Stelle zu bleiben, seine Augen folgten ihm mit unermüdlichem Eifer und wendeten sich selbst dann nicht ab, wenn er mit mir sprach. Ich erinnerte ihn vergeblich daran, dass er viel zu lange nichts
Weitere Kostenlose Bücher