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Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)

Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)

Titel: Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Brontë
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zurückgezogen, dass die Versuchung groß ist, sich ein einziges Mal einem Menschen zu offenbaren.
    Vor fünf Minuten schien Hareton die Verkörperung meiner eigenen Jugend zu sein, nicht ein lebendes Wesen. Ich empfand für ihn in so unterschiedlicher Weise, dass es mir unmöglich gewesen wäre, ihn anzureden. Zum ersten verbindet seine auffallende Ähnlichkeit mit Catherine ihn in erschreckendem Maße mit ihr. Was nach deiner Meinung mich am stärksten fesseln müsste, ist in Wahrheit das Unwesentlichste; denn was wäre für mich nicht mit ihr verbunden, und was riefe sie mir nicht ins Gedächtnis zurück? Ich kann nicht auf diesen Fußboden sehen, ohne dass ihre Züge auf den Fliesen erscheinen. In jeder Wolke, jedem Baum, in der Luft, die mich nachts umgibt, in jedem Gegenstand, den mein Auge tagsüber wahrnimmt, scheint mir ihr Bild entgegenzustrahlen. Die nichtssagendsten Gesichter von Männern und Frauen, meine eigenen Züge narren mich durch eine Ähnlichkeit mit ihr. Die ganze Welt ist ein schreckliches Mahnmal dafür, dass sie gelebt hat und dass ich sie verlor! Nun, Haretons Erscheinung war das Gespenst meiner unsterblichen Liebe, die Erinnerung an mein verzweifeltes Bemühen, mein Recht festzuhalten, an meine Erniedrigung, meinen Stolz, mein Glück, meine Qual. — Es ist der reine Wahnsinn, vor dir all diese Gedanken auszubreiten, es wird dir aber erklären, warum seine Gesellschaft mir nicht wohltut, obwohl ich ungern allein bin; sie vertieft eher die ständige Qual, die ich leide, und sie trägt mit dazu bei, dass es mir gleichgültig ist, ob er und seine Kusine sich vertragen. Ich kann mich gar nicht mehr um sie kümmern.«
    »Aber was meinen Sie mit der Verwandlung, Mr. Heathcliff?« fragte ich, durch sein Wesen beunruhigt, wenngleich er nicht in Gefahr war, seinen Verstand zu verlieren oder zu sterben: nach meinem Eindruck war er kräftig und gesund, und was seinen Geisteszustand anlangte, so hatte er von Kindheit an einen Hang zu düsteren Dingen und seltsamen Vorstellungen. In Bezug auf sein verstorbenes Idol mochte er von einer fixen Idee besessen sein, in allen anderen Dingen waren seine Geisteskräfte so gesund wie die meinigen.
    »Das werde ich nicht eher wissen, als bis sie da ist«, sagte er, »sie ist mir heute nur halb bewusst.«
    »Sie fühlen sich doch nicht krank?« fragte ich.
    »Nein, Nelly, durchaus nicht«, antwortete er.
    »Dann haben Sie auch keine Angst vor dem Tode?« fuhr ich fort.
    »Angst? Nein!« erwiderte er. »Ich habe weder Angst noch ein Vorgefühl, noch eine Hoffnung darauf, zu sterben. Warum auch? Bei meiner eisernen Gesundheit, meiner mäßigen Lebensweise und meinen gefahrlosen Beschäftigungen sollte man annehmen — und so wird es wahrscheinlich auch werden —, dass ich auf der Erde bleibe, bis ich kaum noch ein schwarzes Haar auf dem Kopf habe. Und doch kann es so nicht weitergehen! Ich muss mich geradezu ermahnen zu atmen, fast mein Herz daran erinnern, weiter zu schlagen! Es ist, als wenn man eine hart gewordene Feder zurückbiegt: zu allem, was nicht mit dem einen Gedanken zusammenhängt, muss ich mich zwingen, und nur unter Zwang nehme ich alles Lebende oder Tote wahr, das nicht mit der einen unendlichen Idee zusammenhängt. Ich habe einen einzigen Wunsch, und mein ganzes Wesen und alle meine Lebenskräfte sehnen sich nach seiner Erfüllung. Sie haben sich so lange und so standhaft danach gesehnt, dass ich fest glaube, er wird erfüllt, und bald, weil mein Dasein völlig davon in Anspruch genommen und ich im Vorgefühl dieser Erfüllung aufgezehrt wurde. Mein Geständnis hat mich nicht erleichtert, aber es mag dir einige sonst unerklärliche Zustände und Stimmungen verständlich machen, die du an mir bemerkst. — Gott! Es ist ein langer Kampf — ich wollte, er wäre vorüber!«
    Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen und sprach halblaut so schreckliche Dinge vor sich hin, dass ich anfing zu glauben, was er mir von Josephs Urteil über ihn gesagt hatte: dass das böse Gewissen sein Herz in eine Hölle auf Erden verwandelt hätte. Ich machte mir Gedanken, wie das alles enden sollte. Obwohl er diesen Gemütszustand selten zuvor, nicht einmal durch Blicke, enthüllt hatte, zweifelte ich nicht mehr daran, dass es seine gewohnte Verfassung war. Er behauptete es selbst, obwohl keine Seele diese Tatsache nach seiner äusseren Haltung hätte vermuten können. Sie, Mr. Lockwood, ahnten es auch nicht, als Sie ihn sahen, und zu der Zeit, von der ich spreche, war er

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