Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
gnädige Frau ihn als Jungen gekannt hat, als weil der Herr seine Gesellschaft schätzt. Augenblicklich ist er der Sorge wegen dieser Besuche enthoben, und zwar, weil sich Heathcliff in anmaßender Art um Miss Linton bemüht hat. Ich glaube kaum, dass man ihn wieder empfangen wird.«
»Und zeigt ihm Miss Linton die kalte Schulter?« war die nächste Frage des Arztes.
»Sie hat mich nicht ins Vertrauen gezogen«, erwiderte ich, denn es widerstrebte mir, das Gespräch fortzusetzen.
»Natürlich, sie ist eine Heimlichtuerin«, bemerkte er und wiegte den Kopf hin und her. »Sie behält ihre Absichten für sich. Aber sie ist wirklich eine kleine Närrin. Ich weiss aus zuverlässiger Quelle, dass sie mit Heathcliff in der vergangenen Nacht — und was für einer Nacht! — über zwei Stunden lang in der Schonung hinter Ihrem Hause spazierengegangen ist und dass er in sie drang, nicht wieder hineinzugehen, sondern auf sein Pferd zu steigen und mit ihm fortzureiten. Mein Gewährsmann sagt, sie vermochte ihn nur dadurch hinzuhalten, dass sie ihm ihr Ehrenwort gab, bei ihrem nächsten Zusammentreffen bereit zu sein; wann das stattfinden sollte, konnte er nicht hören; aber Sie sollten Mr. Linton zureden, dass er scharf aufpasst.«
Diese Nachricht erfüllte mich mit neuer Furcht; ich ließ Kenneth langsamer folgen und legte fast den ganzen Weg laufend zurück. Der kleine Hund kläffte immer noch im Garten. Ich verweilte eine Minute, um ihm die Pforte zu öffnen, aber anstatt zur Haustür zu laufen, jagte er hin und her, beschnupperte das Gras und wäre auf die Straße entwischt, wenn ich ihn nicht ergriffen und mit mir ins Haus genommen hätte. Als ich Isabellas Zimmer betrat, bestätigte sich mein Verdacht: es war leer. Wäre ich ein paar Stunden früher gekommen, so hätte Mrs. Linton Krankheit ihren voreiligen Schritt vielleicht verhindert. Aber was war jetzt zu tun? Die einzige Möglichkeit, sie einzuholen, wäre gewesen, wenn man sie sofort verfolgt hätte. Ich jedoch konnte sie nicht verfolgen, und ich wagte nicht, die Familie aufzuschrecken und alles in Verwirrung zu versetzen, und noch weniger konnte ich die Sache meinem Herrn berichten, denn er war so sehr von seinen gegenwärtigen Sorgen in Anspruch genommen, dass in seinem Herzen kein Platz für neuen Kummer war. Ich sah keinen anderen Ausweg, als den Mund zu halten und den Dingen ihren Lauf zu lassen, und als Kenneth anlangte, ging ich mit leidlich gefasstem Gesicht, um ihn anzumelden. Catherine lag in unruhigem Schlummer; ihrem Mann war es gelungen, den Anfall ihres Wahnsinns zu beschwichtigen; jetzt war er über ihr Kissen gebeugt und beobachtete jeden Schatten und jede Veränderung in ihren schmerzlich ausdrucksvollen Zügen.
Als der Arzt den Fall allein untersucht hatte, äusserte er sich Linton gegenüber hoffnungsvoll über einen günstigen Ausgang, wenn es uns möglich sein würde, in ihrer Umgebung für völlige und anhaltende Ruhe zu sorgen. Mir bedeutete er, dass die drohende Gefahr nicht so sehr im Tod als vielmehr in dauernder Geistesgestörtheit bestehe.
In dieser Nacht schloss ich kein Auge und Mr. Linton auch nicht; wir gingen überhaupt nicht zu Bett, und die Knechte und Mägde waren alle lange vor der gewohnten Stunde auf, bewegten sich im Hause mit behutsamen Schritten und unterhielten sich im Flüsterton, wenn sie sich bei ihrer Arbeit begegneten. Jeder war beschäftigt, nur Miss Isabella fehlte, und es fiel allmählich auf, dass sie so fest schlief; auch ihr Bruder fragte, ob sie aufgestanden sei; er wünschte sich offenbar ihre Gesellschaft, und es kränkte ihn wohl, dass sie so wenig Besorgnis um ihre Schwägerin zeigte. Ich zitterte, er könnte mich schicken, um sie zu rufen, doch es blieb mir erspart, als erste ihre Flucht zu verkünden. Eine der Mägde, ein gedankenloses Ding, das schon frühzeitig mit einem Auftrag in Gimmerton gewesen war, kam atemlos, mit offenem Mund, die Treppe herauf, stürzte ins Zimmer und schrie: »Himmel, Himmel! Was wird nächstens noch geschehen? Herr, Herr, unser gnädiges Fräulein…«
»Mach nicht solchen Lärm!« rief ich hastig, denn ich ärgerte mich über ihr Ungestüm.
»Sprich leiser, Mary! — Was ist los?« sagte Mr. Linton. »Was fehlt deiner jungen Herrin?«
»Sie is weg, sie is weg. Der Heathcliff is mit ihr durchgebrannt«, keuchte das Mädchen.
»Das ist nicht wahr!« rief Linton aus und erhob sich aufgeregt. »Es kann nicht sein! Wie bist du auf den Gedanken gekommen? Ellen Dean, geh
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