Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)
und suche sie! Das ist unmöglich; das kann doch nicht sein!«
Während er sprach, zog er die Magd zur Tür und wiederholte dort seine Frage nach den Gründen für eine derartige Behauptung.
»Ich traf auf der Straße einen Burschen, der hier Milch holt«, stammelte sie, »und er fragte, ob wir im Gehöft nicht in Sorge wären. Ich dachte, er meinte wegen gnädige Fraus Krankheit, und sagte ja. Dann sagte er: ›Ich denke, es is schon jemand hinter ihnen her?‹ Ich starrte ihn an. Er merkte, dass ich nichts wusste, und erzählte mir, dass ein Herr und eine Dame kurz nach Mitternacht bei einem Hufschmied, zwei Meilen hinter Gimmerton, haltgemacht hätten, um ein Pferd neu beschlagen zu lassen. Die Tochter des Schmieds war aufgestanden, um zu sehen, wer sie waren, und hat sie beide sofort erkannt. Und sie beobachtete, wie der Mann — sie war sicher, dass es Heathcliff war, überdies ist er gar nicht zu verkennen — ihrem Vater als Bezahlung ein Goldstück in die Hand drückte. Die Dame hatte einen dichten Schleier vor dem Gesicht, aber sie verlangte einen Schluck Wasser, und während sie trank, verschob sich der Schleier, und das Mädchen sah sie ganz deutlich. Heathcliff hielt beide Zügel, als sie davonritten; sie drehten dem Dorf den Rücken und ritten so schnell, wie die schlechten Wege es erlaubten. Das Mädchen sagte ihrem Vater nichts, aber heute früh hat sie es in ganz Gimmerton herumerzählt.«
Ich lief und warf, der Form wegen, einen Blick in Isabellas Zimmer und bestätigte nach meiner Rückkehr die Behauptungen des Mädchens. Mr. Linton hatte seinen Platz am Bett wieder eingenommen; bei meinem Eintritt hob er die Augen, erkannte, was meine blasse Miene bedeutete, und senkte sie wieder, ohne einen Befehl zu erteilen oder ein Wort zu äussern.
»Sollen wir irgendwelche Maßnahmen ergreifen, um sie einzuholen und zurückzubringen?« fragte ich. »Was sollen wir tun?«
»Sie ging aus eigenem Willen«, sagte der Herr; »sie hatte das Recht, zu gehen, wenn es ihr gefiel. Lass mich in Ruhe mit ihr. Von jetzt an ist sie nur noch dem Namen nach meine Schwester, nicht weil ich sie verleugne, sondern weil sie mich verleugnet hat.«
Das war alles, was er über diese Angelegenheit sagte. Er stellte in Zukunft weder eine Frage, noch erwähnte er sie überhaupt; nur befahl er mir, alle Sachen von ihr, die im Hause waren, an sie zu schicken, sobald ich ihren neuen Wohnsitz erfahren hätte.
Dreizehntes Kapitel
DIE FLÜCHTLINGE blieben zwei Monate verschwunden. In diesen zwei Monaten hielt Mrs. Linton dem schlimmsten Ansturm ihrer Krankheit stand, die als Gehirnentzündung bezeichnet wurde, und überwand sie. Keine Mutter hätte ihr einziges Kind hingebungsvoller warten können, als Edgar sie pflegte. Tag und Nacht wachte er und ertrug geduldig alle Qualen, die reizbare Nerven und gestörter Verstand einem Menschen bereiten können. Wohl behauptete Kenneth, was er da vor dem Grabe rette, werde seine Mühe nur damit lohnen, in Zukunft eine Quelle ständiger Sorge zu sein, ja er meinte sogar, dass Linton seine Gesundheit und Kraft opfere, um eine menschliche Ruine am Leben zu erhalten. Und doch kannte Edgars Dankbarkeit und Freude keine Grenzen, als festgestellt wurde, dass Catherine ausser Lebensgefahr war; stundenlang saß er neben ihr, verfolgte die allmähliche Wiederkehr körperlicher Gesundheit und schmeichelte seinen gar zu hoch gespannten Hoffnungen in dem Wahn, ihr Verstand werde allmählich wieder ins rechte Gleis kommen und sie werde bald wieder die alte sein.
Anfang März verließ sie ihr Zimmer zum erstenmal. Mr. Linton hatte am Morgen eine Handvoll goldener Krokusse auf ihr Kissen gestreut. Ihre Augen, denen seit langer Zeit jeder Freudenschimmer fremd war, erblickten sie beim Erwachen und leuchteten entzückt auf, als sie sie eifrig aufsammelte. — »Dies sind die ersten Blumen droben auf der Höhe«, rief sie aus. »Sie erinnern mich an milden Tauwind, warmen Sonnenschein und fast geschmolzenen Schnee. Edgar, haben wir nicht Südwind, und ist nicht der Schnee beinahe weggetaut?«
»Der Schnee ist hier unten schon ganz verschwunden, Liebling«, entgegnete ihr Mann, »ich sehe nur noch zwei weisse Flecken auf dem ganzen Moorland; der Himmel ist blau, die Lerchen singen, und die Quellen und Bäche sprudeln fast über. Catherine, vorigen Frühling um diese Zeit wünschte ich dich sehnlichst unter dieses Dach; jetzt möchte ich, du wärst ein oder zwei Meilen weiter oben auf den Hügeln
Weitere Kostenlose Bücher