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Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)

Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe)

Titel: Emily Brontë: Sturmhöhe (Wuthering Heights) (Vollständige deutsche Ausgabe) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Brontë
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wie der Empfang des Briefes auf Catherine wirken werde. Die Folge war, dass er erst nach Ablauf von drei Tagen in ihre Hände gelangte. Der vierte war ein Sonntag, und ich brachte den Brief in ihr Zimmer, nachdem die Familie zur Kirche gegangen war. Nur ein Bedienter war zurückgelassen worden, um mit mir das Haus zu hüten. Gewöhnlich pflegten wir während dieser Zeit des Gottesdienstes die Türen zu schließen, aber an diesem Tage war das Wetter so warm und freundlich, dass ich sie weit öffnete. Weil ich wusste, wer kommen werde, sagte ich, um mein Versprechen zu halten, zu dem Diener, dass die gnädige Frau gern ein paar Apfelsinen haben wolle, er solle ins Dorf laufen und einige holen, sie würden am nächsten Morgen bezahlt werden. Er verschwand, und ich ging hinauf zu ihr.
    Mrs. Linton saß, in einem losen, weissen Gewand, mit einem dünnen Umschlagtuch um ihre Schultern, wie gewöhnlich in der Nische des geöffneten Fensters. Ihr volles langes Haar war zu Beginn ihrer Krankheit zum Teil abgeschnitten worden; jetzt fiel es in natürlichen Locken schlicht über ihre Schläfen und den Nacken. Wie ich Heathcliff gesagt hatte, war ihre Erscheinung verändert; aber wenn sie ruhig war, schien überirdische Schönheit in dem Wandel zu liegen. Das Blitzen ihrer Augen war von einer träumerischen und schwermütigen Sanftheit abgelöst worden; sie machten nicht mehr den Eindruck, als ob sie die Gegenstände ihrer Umgebung betrachteten, sie schienen immer darüber hinaus, weit darüber hinaus zu blicken, man hätte sagen können, in eine andere Welt. Die Blässe ihres Gesichtes — sein verstörtes Aussehen war verschwunden, als es sich wieder rundete — und der eigentümliche Ausdruck, der ihrem geistigen Zustand entsprang, steigerten die rührende Teilnahme, die sie erweckte, wenn sie auch auf schmerzliche Weise den Ernst ihres Zustandes verrieten. Ich weiss, dass dieses alles mir — und ich glaube, auch allen anderen, die sie sahen — die greifbaren Beweise ihrer Genesung widerlegte und sie zu einer Todgeweihten stempelte.
    Ein Buch lag aufgeschlagen auf der Fensterbank vor ihr, und der kaum wahrnehmbare Wind bewegte von Zeit zu Zeit seine Blätter. Ich glaube, Linton hatte es dort hingelegt; denn sie wollte sich nie durch Lesen oder eine Beschäftigung irgendwelcher Art zerstreuen, und er pflegte manche Stunde auf den Versuch zu verwenden, ihre Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu lenken, der sie früher ergötzt hatte. Sie erriet seine Absicht, und wenn sie sich in guter Stimmung befand, ertrug sie seine Bemühungen ruhig und bekundete ihre Nutzlosigkeit nur durch einen gelegentlichen gelangweilten Seufzer, bis sie ihm schließlich mit traurigem Lächeln und Küssen Einhalt tat. Zu anderen Zeiten pflegte sie sich verdriesslich abzuwenden und ihr Gesicht in den Händen zu verbergen, ja sie stiess ihn sogar ärgerlich weg — und dann ließ er sie allein, denn er wusste, dass seine Gegenwart nichts bessern konnte.
    Die Kirchenglocken von Gimmerton läuteten noch, und das tiefe, eintönige Murmeln des Baches im Tal klang wohltuend an unser Ohr. Es war ein lieblicher Ersatz für das noch ferne Rauschen des Sommerlaubes, das diese Musik in der Umgebung des Gehöftes übertönte, wenn die Bäume belaubt waren. In Wuthering Heights war das Läuten immer an ruhigen Tagen nach starkem Tauwetter oder anhaltendem Regen zu hören. Und an Wuthering Heights dachte Catherine, während sie lauschte, das heisst, wenn sie überhaupt dachte und lauschte. Sie hatte wieder den unbestimmten, abwesenden Blick, den ich schon beschrieb und der nicht erkennen ließ, ob sie etwas sah oder hörte.
    »Hier ist ein Brief für Sie, Mrs. Linton«, sagte ich und legte ihn leise in ihre Hand, die auf dem Knie ruhte. »Sie müssen ihn sofort lesen, da auf Antwort gewartet wird. Soll ich das Siegel erbrechen?« — »Ja«, antwortete sie, ohne die Richtung ihres Blickes zu verändern. Ich öffnete ihn; er war ganz kurz. »Hier«, fuhr ich fort, »lesen Sie ihn.« Sie zog ihre Hand fort und ließ ihn fallen. Ich legte ihn auf ihren Schoß zurück und blieb wartend stehen, bis sie einmal hinunterschauen werde; doch dies ließ so lange auf sich warten, dass ich endlich fortfuhr: »Soll ich ihn vorlesen, gnädige Frau? Er ist von Heathcliff.«
    Die Folge war ein Hochfahren, ein beunruhigter Schimmer aufsteigender Erinnerung in ihren Augen und die Anstrengung, ihre Gedanken zu ordnen. Sie hob den Brief auf und schien ihn durchzulesen, und als sie an

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