Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
los war: Sam war eifersüchtig. Ich hätte es kommen sehen müssen. Mary hatte wohl auch nicht umsonst eine Andeutung gemacht, die sich direkt auf Sam bezogen hatte. Wie dämlich von mir. Natürlich hatte sich Sam Hoffnungen gemacht. Natürlich arbeitete er sich schon seit Wochen an mich heran. Natürlich hatte er jedes nette Wort von mir überinterpretiert. Und außer mir hatte es vermutlich jeder kapiert.
Wie stand ich zu Sam? Er war eine Jugendliebe gewesen, eine Verliebtheit voller Unsicherheiten und Ängste, voller Hoffnungen und Neugier. Ich war bereits vierzehn gewesen, als ich mir langsam selbst zugestehen konnte, dass ich mich für Jungs interessierte. Damit war ich ein Spätzünder. Die anderen Mädchen in meinem Jahrgang hatten längst Erfahrungen gesammelt, die über einfaches Händchenhalten hinausgingen. Als ich mir zum ersten Mal von einem Jungen einen flüchtigen Kuss auf die Wange geben ließ, sprachen die anderen schon davon, wie sie sich ihren ersten Sex vorstellten. Dabei war ich die Einzige, die nicht katholisch war. Ein paar Mädchen unterstellten mir sogar, ich würde mich nur nach außen hin so keusch und brav geben, in Wirklichkeit hätte ich es bestimmt schon mit ganz vielen Jungs »gemacht«.
Das sprach sich an der Schule herum. Ich bemerkte viel zu spät, was über mich hinter vorgehaltener Hand getratscht wurde. Bei den Jungs kam es schneller an als bei mir, und sie lauerten mir auf, stellten mir nach, schrieben mir eindeutige Botschaften auf Zettelchen, die sie mir in die Schultasche steckten.
Einer fasste mir sogar an die Brust. Er wartete mit seinen Freunden auf mich, als ich auf dem Nachhauseweg war. Sie waren mir nachgegangen bis zu dem kleinen Feldweg, der eine Abkürzung zum Haus meiner Großmutter war. Ich schrie und schlug seine Hände weg, er aber packte meine Handgelenke und sagte: »Stell dich nicht so an, du lässt doch jeden ran!« Seine Freunde lachten.
Ich hatte noch nie so große Angst gehabt wie in diesem Moment. Vergewaltigung war mir ein Begriff, wenn auch ein diffuser. Zum Glück kam es nicht so weit. Ein anderer Junge kam angerannt und prügelte meinen Angreifer zu Boden, dessen Freunde verzogen sich, als hätten sie mit alledem nichts zu tun. Ich weinte und hielt mir schützend die Arme vor die Brust. Jemand sagte zu mir, nun sei alles in Ordnung, er würde mich nach Hause bringen. Es war Sam, ich kannte ihn zu der Zeit nur vom Sehen. Schließlich war er ein Jahr älter als ich, im selben Jahrgang wie Sophie. Dankbar ließ ich mich von Sam zu meiner Großmutter bringen, die ihn freundlich, aber bestimmt nach Hause schickte, mich mit einer Kanne Tee i ns Bett steckte und die Eltern des Jungen anrief, der m ich angefasst hatte, um ihnen einen Vortrag über sexuelle Belästigung zu halten. Sie ließ sich nie viel im Leben gefallen, und sie wollte dafür sorgen, dass ich ebenso tapfer und unerschrocken wurde wie sie. Margaret blieb den ganzen Tag bei mir, und wir sprachen über sexuelle Selbstbestimmung, über Träume und Ängste, über Jungs und Männer, Mädchen und Frauen, einfach über alles.
»Du darfst nie vergessen, dass du ein ganz wertvoller Mensch bist. Du bist schön und klug. Jeder Mensch ist wertvoll und schön und klug, jeder auf seine Art. Und deshalb darf man niemanden abwerten und sich selbst auch nie herabsetzen lassen. Wenn dir jemand etwas tut, das dir nicht gefällt, musst du dich wehren. Du hast es nicht verdient, gedemütigt zu werden. Niemand hat es. Denk immer daran«, sagte sie zu mir.
Ihre Worte hatten mir nicht nur in dem Moment gutgetan, sondern sie hatten mich auch stark genug gemacht, um am nächsten Tag erhobenen Hauptes zurück in die Schule zu gehen. Sam war von nun an immer in meiner Nähe. Der Vorfall hatte sich natürlich mit der Geschwindigkeit eines Orkans herumgesprochen, und alle starrten mich an. Ich hielt es aus, mir Margarets Worte immer wieder ins Gedächtnis rufend. Von diesem Tag an sagte niemand mehr ein böses Wort zu mir. Es war kein Mitleid, das sie davon abhielt, sondern Respekt – der Respekt davor, dass ich am nächsten Tag wiedergekommen war, statt mich zu verstecken. Den Jungen, der mich belästigt hatte, sah ich allerdings nicht mehr an der Schule, es hieß, er sei von seinen Eltern auf ein Internat geschickt worden, aber ich wusste nie, ob es wirklich der Wahrheit entsprach oder nur eine Legende war. Dass er mir an die Brust gefasst hatte, war Teil einer Wette gewesen, wie ich irgendwann erfuhr. Sie hatten
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