Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
ich das Krankenhaus, um nach meinem Freund zu suchen. Die Band war längst weitergezogen. Ich versuchte, mich an den Tourplan zu erinnern, und trampte nach Brighton, wo er an dem Abend prompt einen Auftritt hatte. Einer der Roadies drückte mir eine Tüte mit meinen Sachen in die Hand und verzog sich. Ich wartete.
Als ich meinen Freund nach dem Auftritt endlich zu sehen bekam, fragte er nicht, wie es mir ging oder was geschehen war. Er sagte nur: »Sorry, Kleines, aber ich kann keine Probleme gebrauchen.« Dann ließ er mich stehen.
Die nächste Zeit war die Hölle. Ich schlief unter freiem Himmel, wurde von der Polizei aufgegriffen, in ein Frauenhaus gesteckt, wo ich es nicht länger als zwei Nächte aushielt. Ich hing anschließend mit ein paar obdachlosen Jugendlichen herum, die Zeit verstrich, ohne dass ich es bemerkte. Mit einem Schlag war es Weihnachten, und ich fühlte mich schrecklich einsam. Das letzte Weihnachten hatte ich mit der Band verbracht. Dieses Mal war ich der Freak unter den Freaks. Bei aller Solidarität, die man auf der Straße füreinander haben mag – es scheint das Menschlichste zu sein, immer nach jemandem zu suchen, der noch schlechter dran ist als man selbst. Doch niemand war so fett wie ich.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag geschah etwas, das mein Leben endlich ändern sollte: Eine Sozialarbeiterin fand mich am Bahnhof von Brighton, wo ich gerade ein paar frisch erbeutete Schokoriegel verschlang. Die Frau setzte sich zu mir auf den kalten Boden und bot mir eine Zigarette an. Sie schaffte es, dass ich anfing zu reden, und nahm mich mit in eine Unterkunft, aus der ich nicht sofort wieder verschwinden wollte. Hier war es nicht nur warm und halbwegs sauber, hier waren die Leute auch nett zu mir. Die meisten anderen waren ebenfalls in meinem Alter, und sie hatten etwas im Blick, das ich gut verstand: die Sehnsucht, irgendwo anzukommen, und die Angst, gleich wieder alles zu verlieren. Ich bekam kleine Aufgaben zugeteilt und wurde gelobt, wenn ich sie ordentlich erledigte. Ich hatte sogar ein eigenes Zimmer. Es war winzig, aber ich musste es mit niemandem teilen.
Die Sozialarbeiterin vermittelte mich schließlich in ein Programm für essgestörte Jugendliche. Dort bekam ich Hilfe, die ich annehmen konnte, weil ich spürte, dass ich diesen Weg von nun an gehen musste, wenn ich noch eine Chance in diesem Leben haben wollte. Ich machte einen Drogenentzug und eine Therapie. Dann bekam ich Beratung in Sachen Ernährung und Sport, die Therapie ging außerdem weiter … Was ich hier so knapp erzähle, zog sich über ein Dreivierteljahr. Danach wurde mein Therapieplatz nicht weiter verlängert, ich musste mir einen Job und eine kleine Wohnung suchen. Aber ich konnte weiter zur Therapie gehen und die Ernährungsberatung in Anspruch nehmen. Ich traf auf Menschen, die mir halfen, und ich glaubte, es würde immer so weitergehen.
Natürlich kam ich irgendwann wieder in der Realität an. Ich musste lernen, mich selbst um mich zu kümmern. Dafür sorgen, dass mein Kühlschrank voll war, dass die Rechnungen bezahlt wurden, dass die Wäsche gewaschen wurde. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings sehr viel stabiler, als ich es während meiner gesamten Pubertät war. Ich jobbte und holte meinen Schulabschluss nach. Wieder ins Lernen reinzukommen war wohl die schwierigste Aufgabe. Mich jeden Tag zu motivieren und den Stoff zu bewältigen kam mir anfangs so unmöglich vor wie eine Bergbesteigung ohne Ausrüstung. Aber ich schaffte es. Ich ließ nicht locker. Ich machte meinen Abschluss.
Ich schrieb mich für ein Psychologiestudium ein. Damit hatte ich mich allerdings vollkommen überschätzt. In der Uni zu sitzen und Vorlesungen zu hören war einfach nicht mein Ding. Und das, was sie dort erzählten, hatte nichts mit dem zu tun, was ich erwartet hatte. Hinzu kam, dass ich immer noch viel zu sehr mit mir zu tun hatte. Ich musste mein Sportprogramm einhalten, extrem auf meine Ernährung achten, viel arbeiten, um das Geld für mein Studium zu verdienen, denn zu meinen Eltern hatte ich immer noch keinen Kontakt. Auch hätten sie sowieso keine Studiengebühren zahlen können. Nach dem ersten Jahr brach ich zusammen und musste noch einmal für drei Monate in eine Klinik, doch diesmal wegen eines Burn-outs. In dieser Zeit beschloss ich, die Ausbildung zur Krankenschwester zu machen. Ich bekam einen günstigen Studentenkredit und hielt die Ausbildung sogar durch, und das, obwohl ich mich schon wieder in Schwierigkeiten
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