Emmas Geheimnis: Roman (German Edition)
waren zwölf. In dem Alter verliert man sich leicht aus den Augen, wenn man nicht mehr auf dieselbe Schule geht. Und jetzt sag schon. Was war gerade los?«
Sie zuckte mit den Schultern, verschränkte die Arme. »Als du sagtest, mein Babyspeck hätte sich doch bestimmt in der Pubertät erledigt … Ich habe mit achtzehn weit über hundert Kilo gewogen.«
Mir blieb für einen Moment der Mund offen stehen. Ich glaubte sogar, nicht richtig gehört zu haben. »Jetzt machst du einen Witz«, sagte ich endlich.
»Nein«, sagte sie ruhig.
Ich sah sie mir noch einmal genau von Kopf bis Fuß an: Emma war ungefähr eins siebzig groß, und den zarten Schultern, den dünnen Handgelenken und schmalen Hüften nach zu urteilen wog sie im Moment offenbar die Hälfte von ihrem damaligen Gewicht. Ich erinnerte mich daran, ihre Knochen gespürt zu haben, wann immer ich sie seit unserem Wiedersehen umarmt hatte. In diesem Moment kam mir ein schrecklicher Verdacht: Trug sie diese weite Kleidung etwa gar nicht, um zu verbergen, dass sie nach der Schwangerschaft noch keine Idealfigur hatte, sondern vielmehr um davon abzulenken, wie dünn sie in Wirklichkeit war?
»Wie hast du abgenommen?«, fragte ich.
»Ich war in einer Spezialklinik. Und danach hielt ich mich ganz streng an meinen Ernährungsplan und machte unheimlich viel Sport. Bis ich mit Kaelynn schwanger wurde.« Sie lächelte wieder. »Aber genug damit. Ich dachte, wir wollten Spaß haben?« Emma wandte sich zum Gehen, und ich brauchte ein paar Sekunden, um ein ungutes Gefühl von mir abzuschütteln und ihr zu folgen.
Noch in derselben Nacht packte ich meine Sachen und ging zu meinem Freund. Er war der erste Mann, mit dem ich wirklich schlief, und wenn ich sage Mann, dann meine ich damit, dass er schon achtundzwanzig war, zwölf Jahre älter als ich. Er wohnte am anderen Ende der Stadt, sodass mich meine Eltern so schnell nicht finden würden. Ich schmiss die Schule, blieb einfach bei ihm. Wir rauchten und tranken und nahmen Drogen. Das Leben mit ihm war eine einzige Party. Ständig waren Freunde von ihm im Haus und feierten mit. Er war Schlagzeuger in einer Band, und als die nächste Tour anstand, nahm er mich einfach mit. Die Party ging weiter. Ich lebte nachts und schlief tagsüber, meist im Tourbus, und oft wusste ich nicht einmal, in welchem Ort wir gerade waren. Ich glaube, ich wollte zunächst einfach nur vergessen. Nicht mehr an meine Eltern denken, die mir ständig nur in alles hineinreden und mein Leben verpfuschen wollten. Die mir sogar die beste Freundin genommen hatten.
Ich dachte damals immer, wenn wir Freundinnen bleiben, kann ich alles erreichen. Dann kann ich studieren und ein besseres Leben haben, ebendieses bessere Leben, das die beiden so sehr für mich wollten. Das Gegenteil aber hatten sie erreicht: Ich war nun eine sechzehnjährige Ausreißerin ohne Schulabschluss, die sich regelmäßig betrank, Drogen nahm und mit einem Mann schlief, der viel zu alt für sie war.
Wir waren irgendwo in Nordengland, als ich die schlimmsten Bauchschmerzen bekam, die man sich vorstellen kann. Ich konnte vor Krämpfen nicht mehr laufen, und dann fing ich auch noch an zu bluten. Mein Freund lud mich vorm Krankenhaus ab und verschwand. Er ließ mich tatsächlich allein. Eine Krankenschwester rief sofort Ärzte herbei. Man brachte mich in den OP, ich wurde untersucht und schließlich narkotisiert. Als ich aufwachte, erzählte man mir, was geschehen war: Ich hatte ein Kind geboren. Es war noch bei der Geburt gestorben.
Ich war schwanger gewesen und hatte es nicht einmal bemerkt. Ich war immer dicker geworden und hatte gedacht, es läge am Alkohol und am schlechten Essen und einfach an meiner körperlichen Veranlagung. Ich war nie auf die Idee gekommen, schwanger zu sein. Daran, dass ich schon ewig meine Tage nicht mehr bekommen hatte, hatte ich gar nicht gedacht, schließlich hatte ich dafür gesorgt, dass meine Sinne ständig betäubt waren.
Noch nicht ganz siebzehn und schon eine Totgeburt.
Die Krankenschwester sagte mir, dass das Kind schwere Missbildungen gehabt hatte und es nicht lebensfähig gewesen war. Ob ich während der Schwangerschaft geraucht oder getrunken oder irgendwelche Medikamente genommen hätte?
Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, mich ihr anzuvertrauen, aber der Moment ging viel zu schnell vorüber. Ich verschloss mein Innerstes und schwieg. Ich machte falsche Angaben zu meiner Person, und sobald ich mich kräftig genug fühlte, verließ
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