Emmas Story
versunkenes Lächeln auf dem Gesicht. Nein, nicht sie hat ihr Herz an eine verloren, die jetzt gerade eine andere in ihren Armen hält und der etwas ins Ohr säuselt. Lu ist es nicht, die sich hier – inmitten all der gut gelaunten, fröhlichen Menschen – einsam fühlt.
»Was ist denn mit dir, Emma?«, fragt Michelin da und sieht mich besorgt an. »Du bist ja plötzlich ganz blass.«
Oh je. Wie hat sie mich denn unbemerkt so deutlich mustern können?
Ich fasse mir an die Stirn.
»Weiß nicht. Ich glaube, es ist die Luft. Ich gehe mal einen Augenblick raus, um ein bisschen Sauerstoff zu tanken.«
»Soll ich dich begleiten?«, schlägt Angela vor und macht den Eindruck, als sei sie nur zu gern bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Vielleicht deswegen, weil sie selbst mehr als zehn Jahre älter ist als ihre Freundin und deren Freundinnen und mindestens zwanzig Jahre älter als der Rest der Anwesenden. Vielleicht bin ich nicht die Einzige, die sich gerade etwas außen vor fühlt?
Obwohl mich dieser nette Solidaritätsvorschlag rührt, schüttele ich den Kopf. »Nein. Danke. Ist nicht weiter tragisch. Bin gleich zurück.«
Kurz hebe ich die Hand und wende mich um, während aus ihrem Kreis diverse mitfühlende Blicke auf mich gerichtet sind.
Nur weg hier.
Nur schnell raus aus diesem Menschengewühl.
Nur fort von diesen entlarvenden Blicken und den wissenden Mienen.
Ich gehe langsam hinaus, obwohl ich am liebsten gerannt wäre.
Vor der Eingangstür wende ich mich nach links und verschwinde um die Ecke des Gebäudes aus der Sicht derjenigen, die sich hier direkt vor der Tür zum Rauchen, Klönen, Flirten treffen.
Schlagartig wird es ruhiger.
Die Straße liegt verlassen da.
Ich schlendere an der Längsseite des Bahnhofs vorbei und lasse mich schließlich auf einer der Stufen zum ehemaligen, inzwischen zugemauerten Eingang nieder.
In meinem Kopf dröhnt die Stille.
Wenn es drinnen gerade sehr laut war, ich sehr viel gefühlt und sehr eng gedacht habe, dann kommt mir die Nacht draußen plötzlich vor wie eine weite Fläche aus Dunkelheit, Schweigen und Leere.
Ich starre minutenlang in sie hinein. Sauge die kühle Nachtluft auf wie einen lang vermissten Duft.
Morgen früh rufe ich Armin an und sage ihm, dass er sich endlich von Rolf trennen soll.
Er muss doch endlich begreifen, dass er definitiv keine Chance hat gegen eine Ehefrau, ein Kind und zwei Meerschweinchen im Reihenmittelhaus, gegen konservative, aber herzensgute Schwiegereltern, gemeinsame Jahresurlaube, Weihnachten mit der kompletten Familie.
Schon seit einer ganzen Weile hat Rolf nicht mehr versprochen, sich zu trennen.
Nicht einmal mehr versprochen und dann nicht gehalten. Nicht einmal mehr das.
Wohin soll das also führen?
»Guckst du dir den Mond an?«, fragt da plötzlich eine Stimme direkt hinter mir.
»Mensch!«, fahre ich zusammen, und während ich zusammenzucke, erkenne ich Lu. »Hast du mich erschreckt!« Früher schon war sie so leise wie eine Schleichkatze. Sie hat sich immer gern einen Spaß daraus gemacht, andere mit ihrem geräuschlosen Erscheinen zu erschrecken.
Doch jetzt lacht sie nicht begeistert über ihren eigenen Scherz auf, so wie ich es erwartet hätte, sondern hebt mit ernster Miene nur entschuldigend die Hände. »Das wollte ich nicht. Ich dachte, ich guck mal lieber nach dir. Dein Abgang sah nicht besonders standhaft auf deinen Beinen aus. Hast du etwas mehr frischer Luft gebraucht?«
Ich unterlasse es, ihre falschen Wortkonstruktionen zu korrigieren. Sie hat von der Tanzfläche aus gesehen, wie ich gegangen bin? Ihre Stimme verrät, dass sie nicht wirklich die frische Luft meint, die ich ihrer Meinung nach wohl gebraucht habe.
Trotzdem antworte ich: »Ja, es war plötzlich so stickig.«
»Das wird immer schlimmer, je länger man da ist«, kommentiert sie. »Ich glaube, das ist irgendwie mit allem so, was man nur schwer aushalten kann. Je länger man es aushalten muss, desto weniger ist es zu ertragen.«
Ich habe einen Kloß im Hals. Das klingt, als wisse sie genau, wie es mir geht, worum es hier geht. Aber das kann doch nicht sein.
»Lu…«, beginne ich und breche ab.
»Weißt du, so hat mich schon lange niemand mehr genannt«, sagt sie leise. »Mit Mitte dreißig ist es seltsam, mit dem Kindernamen angesprochen zu werden. Das wollte ich gestern schon die ganze Zeit sagen.« Dass sie so ruhig und leise spricht, wirkt auf mich völlig unrealistisch. Keine zehn Meter von uns entfernt, hinter den dicken
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