Emmas Story
Mauern des ehemaligen Bahnhofs, ist es so laut und trubelig.
Sie selbst ist doch sonst immer laut und trubelig. Aber jetzt gerade nicht.
»Wie nennen die anderen dich denn?«, frage ich.
»Lucimar«, sagt sie. »So heiße ich doch.«
Ich überlege einen Augenblick.
»Auch innen drin?«, will ich dann wissen.
Sie sieht mich nicht an, sondern schaut unverwandt hinüber auf die andere Straßenseite.
Eine merkwürdige Frau ist sie geworden.
Aus einem verrückten, ungewöhnlichen Teenager ist eine irritierende, ungewöhnliche Frau geworden.
Jetzt weiß ich gerade selbst nicht mehr genau, ob ich sie deswegen rundheraus ablehnen oder plötzlich beinahe liebenswert finden soll.
Liebenswert? Lu? Das eine Glas Sekt muss mir zu Kopf gestiegen sein!
»In den letzten Tagen bin ich mir nicht mehr sicher«, sagt sie da langsam, als müsse sie beim Reden jedes ihrer Worte prüfen. Nicht auf die grammatikalische Korrektheit, was sicher hin und wieder nicht schaden würde, sondern eher auf ihren gefühlten Inhalt. »Ja, in den letzten Tagen komme ich mich manchmal wieder so ein bisschen mehr vor wie Lu. Wie die Lu von damals. Verrückt, oder?«
Ich antworte nicht.
Ich frage auch nicht, was denn das bedeuten könnte, dass sie sich vorkommt wie die Lu von damals.
Eins ist sicher: Es hat auf jeden Fall etwas mit mir zu tun.
»Emma?«
»Ja?«
»Wieso hast du dich nie gemeldet?«
Ich schaue auf den Asphalt.
Wieso habe ich mit dieser Frage jetzt nicht gerechnet? Dachte ich wirklich, ich käme drum herum?
»Hm«, mache ich. »Hätte ich mir denken können, dass du mir das übel nimmst. Ich hätte das ganz sicher auch getan.«
»Ich nehm’s dir nicht übel.«
Natürlich nicht. Richtig. Stimmt ja. Lu nimmt mir nie etwas übel. Das hatte ich eine Sekunde lang fast vergessen.
»Ich wüsste nur gern, warum …«
»Aus keinem bestimmten Grund. Ich wollte einfach … einfach frei sein.«
»Frei sein?«, wiederholt sie verwundert.
Plötzlich kommen mir meine Worte blöd vor. Mein ganzer Auftritt hier erscheint mir affig. Meine Flucht aus dem verräucherten, dröhnenden Raum, in dem ich plötzlich nur noch meinen eigenen Herzschlag wahrnehmen konnte. Mein Davonrennen vor Tatsachen wie sie nun einmal sind. Mein dramatisches Herumsitzen in der Nacht, das so offensichtlich etwas mit einer Herzensangelegenheit zu tun hat. Ich komme mir bloßgestellt vor. Es ist das gleiche Gefühl, das ich hatte, als ich zusehen musste, wie Lu die dickbehaarte Spinne sanft auf ihrer Hand aus dem engen Zelt trug und vorsichtig draußen ins Gras setzte, wo das Monstervieh rasch davoneilte. Nur dass hier keine Frau Hillebrand ist, die Lu für ihren vorbildlichen Umgang mit den Mitgeschöpfen ein Snickers schenken kann. Hier sind nur wir, nur Lu und ich. Und mein Gewissen. Das ersetzt mittlerweile offenbar problemlos eine ausgewachsene Biolehrerin.
»Das kann ich nicht erklären«, murmele ich, als könne ich mich damit aus meiner eigenen Gefühlsklemme retten. »Lässt sich ja sowieso nicht rückgängig machen.«
Lu hebt einen Stein auf, der am Fuß der Stufe liegt.
Ich sehe auf ihre Hände, wie sie mit ihm spielen, ihn hin und her wälzen zwischen den Handflächen, ihn über die Fingerkuppen wandern lassen, vorbei am goldenen Ring.
Es erinnert mich an viele Male, die wir so gesessen haben. Es waren so viel mehr Male, als ich es gestern noch gedacht hätte. Vorgestern noch hätte ich mich nicht an einen Bruchteil davon erinnern können. An diese Momente, in denen wir irgendwo nebeneinander saßen und Lu mit etwas spielte. Einem kleinen Zweig, von dem sie systematisch die Rinde schälte, einem Grashalm, den sie sorgfältig in der Mitte teilte, Sand, den sie durch ihre Finger rieseln ließ. Ein seltsames Gefühl begleitet diese Erinnerungen. Es fühlt sich … vertraut an.
»Willst du das immer noch? Frei sein, meine ich«, fragt Lu, und der Stein fällt ihr aus der Hand. Ich kann ihrer Stimme anhören, dass sie meine eigenen Worte wiederholt und zu fassen versucht, was sie meinen. Dass sie aber nicht wirklich versteht, was es bedeutet. Wahrscheinlich kommt es ihr total verrückt vor, dass ich mich damals nur ohne sie frei fühlen konnte. »Schließlich müssen wir uns nicht mehr treffen, wenn du nicht willst. Wir können jetzt einfach Tschüss sagen und weggehen, weißt du.«
Sie wendet den Kopf und sieht mich an. Ich kann es spüren. Aber ich erwidere ihren Blick nicht. Bis sie auch ihr Gesicht wieder abwendet.
»Du kannst ja darüber
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