Emmas Story
ich, ob sie vielleicht eingeschlafen ist.
Doch dann höre ich ein Geräusch, das mir in alle Glieder fährt, und mir wird klar, dass sie weint.
Vorsichtig mache ich einen Bogen um Jojo und trete ans Bett.
»Hey«, sage ich leise. »Was ist denn? Geht’s dir nicht gut?«
Sie weint nicht laut, sondern sehr still in sich hinein. Aber wo ich jetzt so nah bei ihr stehe, kann ich sehen, wie ihre Schultern beben.
»Lu«, flüstere ich. »Lu, wein doch nicht.«
Doch ihre leisen Töne nehmen nicht ab.
Ich setze mich auf die Kante des Bettes und berühre sie zaghaft an der Schulter.
»Ist es wegen Antonie? Weinst du wegen ihr?«
Lus leises Schluchzen stockt für einen Augenblick, dann atmet sie tief ein und wieder aus.
»Nein«, sagt sie. »Es ist nicht wegen Antonie, Emma.«
»Ich meine, es geht mich ja eigentlich nichts an, aber ich hatte einfach den Eindruck, dass da zwischen euch etwas ist. Und da dachte ich … Wieso erzählt sie Frauke, dass sie zu ihrer Tante nach Marburg fährt und geht stattdessen mit dir ins Kino?«, will ich wissen.
Lu zieht die Nase hoch.
»Emma, hör auf damit. Wenn du dir Gedanken um deine Frauke machst, dann sprich mit ihr darüber und nicht mit mir, bitte.«
Das ist nun eine mehr als schwammige Antwort. Aber ich gebe mich damit zufrieden.
Ist ja auch verständlich, dass sie nicht mit mir darüber reden will. Schließlich habe ich mich die letzten Tage nicht gerade vertrauenswürdig ihr gegenüber verhalten.
Meine Hand liegt auf ihrer Schulter, merke ich gerade. Unter dem T-Shirt ist sie warm und samtig.
Ich ziehe meine Hand zurück.
»Es war so verrückt«, beginnt sie da. »Als ich dich wiedersah, da habe ich mich zuerst einfach nur gefreut. Du warst noch so wie früher, und doch hatte sich so viel verändert. Ich war einfach nur happy, dich getroffen zu haben. Ich dachte, alles sei anders. Schließlich hatte ich mein eigenes Leben, meinen Beruf, meine Freunde, meine Familie … ich dachte, du würdest nie wieder eine so wichtige Rolle spielen können wie früher. Aber dann … dann war ganz schnell klar, dass ich mich selbst belogen habe. Ich dachte wieder an dich.«
Sie verstummt und spricht nicht weiter.
»Du dachtest an mich?«, hake ich nach. Mein Herz galoppiert. Mitten in der Nacht galoppiert mein Herz wie ein verschrecktes Pferd in Panik.
»Ja. Mehr als mir lieb war. Viel. Und dann musste ich mich entscheiden, ob ich es will. Ob ich das wieder will. Schließlich war spätestens seit dem Schwoof klar, wem dein Herz gehört, oder? Wieder nicht mir. Wieder hatte ich keine Chance. Es ist nicht gut, zu sehr an eine zu denken, bei der du keine Chance hast …«
Ich muss schlucken.
Sie hat an mich gedacht.
Während ich noch fest überzeugt war, sie nie wieder sehen zu wollen, hat sie an mich gedacht.
Sie hat mehr an mich gedacht, als ihr lieb war und viel zu viel, während ich unsere Freundschaft überall verleugnete und nur grammatikalische Probleme und zu große Hilfsbereitschaft sah.
Während ich auch an sie dachte.
»Und wie hast du dich entschieden?«
Schweigen.
Es dauert lange. Viel zu lange für meine Nerven, bis Lu sich schließlich langsam auf der Matratze herumdreht und mich mit in die Hand gestütztem Kopf ansieht.
»Früher«, raunt sie. Ich muss mich ein bisschen näher zu ihr beugen, um sie zu verstehen. »Früher, da dachte ich oft: ›Nur ein einziger Kuss! Bitte nur einen einzigen Kuss!‹«
Ihre Augen liegen ganz im Dunkeln.
Aber ihren Mund, den kann ich sehen.
Ihre schön geschwungenen Lippen, die ganz ernst und gerade liegen jetzt.
Wahrscheinlich ist das falsch. Wahrscheinlich ist es das Dümmste, das ich je getan habe. Aber ich beuge mich langsam vor und küsse sie.
Ich, Emma, küsse Lucimar Streubel.
Und es ist ein weiches, warmes Gefühl. Verwirrend, weil darin so viel Vertrautheit und Fremdheit zugleich liegt.
Lu erwidert meinen Kuss sehr sanft.
Nur ein kleines bisschen streckt sie mir ihr Gesicht entgegen und lässt mich den ganzen restlichen Weg zu ihr kommen.
Ich spüre ihren tiefen Atem an meiner Wange, während unsere Lippen sich berühren.
Es ist ein zarter Kuss. Ein poetischer Kuss. Wie ein Gedicht oder eine schöne Melodie.
Als ich mich wieder zurückziehe, spüre ich ein Lächeln auf meinem Gesicht.
Nie hätte ich gedacht, dass Lu derart zart küssen kann. Dass sie so sanft und zärtlich etwas geschehen lässt. Ich finde, in diesem Kuss lag mehr Dramatik, als ich sie je in Worte fassen könnte. Auch ich atme
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