Empfindliche Wahrheit (German Edition)
Verstohlenheit, um Suzanna nicht aus ihrem Morgenschlaf zu wecken, rasierte Kit sich und zog einen dunklen Stadtanzug an – bloß nicht noch mal so eine Deppenkluft wie bei seinem Treffen mit diesem Widerling Crispin, dessen Rolle bei dem Ganzen er aufdecken würde, und wenn es ihn seine Pension und seinen Titel kostete!
Kritisch musterte er sich in dem Spiegel an der Innentür des Kleiderschranks, überlegte, ob er aus Respekt vor Jeb noch eine schwarze Krawatte umbinden sollte, entschied sich aber dagegen: zu demonstrativ, falsches Signal. Mit einem altertümlichen Schlüssel, den er seinem Schlüsselring erst kürzlich hinzugefügt hatte, schloss er eine Schublade am Schreibtisch des Kommandanten auf und entnahm ihr erst den Umschlag mit Jebs Quittungsblättchen darin und als Zweites einen Ordner mit der Aufschrift ENTWURF , in dem sein handschriftliches Dokument lag.
Als er einen Moment innehielt, merkte er fast mit Erleichterung, dass er weinte, vor Trauer und Wut gleichermaßen. Aber ein rascher Blick auf den Titel seines Dokuments machte ihn nur umso entschlossener:
»Operation Wildlife, Teil I : Augenzeugenbericht des Stellvertreters des Ministers Ihrer Majestät auf Gibraltar, unter Berücksichtigung zusätzlicher Erkenntnisse, geliefert durch den Truppführer, UK Special Forces.«
Teil II , der »Augenzeugenbericht des Truppführers«, würde für immer unvollendet bleiben, also musste Teil I doppelt herhalten.
Leise schlich er über die Abdeckfolien ins Schlafzimmer, wo er andächtig und beschämt auf seine schlafende Frau niederblickte. Dann schlich er weiter in die Küche, zu dem einen Telefon im Haus, an dem er sprechen konnte, ohne dass sich vom Schlafzimmer aus mithören ließ, und ging mit einer Methodik, die der Ratte Bell würdig gewesen wäre, die nächste Stufe seines Plans an.
Schritt 1 : Mrs. Marlow anrufen.
Mit gesenkter Stimme bringt er sein Anliegen vor. Aber sicher, Mrs. Marlow ist gern bereit, im Gutshaus zu übernachten, immer vorausgesetzt, Suzanna möchte es, denn das ist doch die Hauptsache, oder? Ob denn das Telefon jetzt wieder funktioniert? Für sie klingt es völlig normal.
Schritt 2 : Walter und Anna anrufen, zwei Langweiler, aber herzensgut.
Er weckt Walter auf – für Walter kein Problem! Nein, natürlich können er und Anna am Abend bei ihnen vorbeischauen und Suzanna ein bisschen Gesellschaft leisten, wenn Kits Geschäftstermin sich so lange hinzieht, dass er erst morgen wieder da ist. Ob Suzanna gern fernsieht, denn heute Abend kommt Die Lautlosen auf Sky?
Einmal tief durchatmen, dann setzt er sich an den Küchentisch und schreibt, ohne abzusetzen und unter Verzicht auf Nachbesserungen, Streichungen oder Randnotizen:
Liebste Suki,
ich habe Neuigkeiten über unseren Freund J. erfahren und muss deshalb so schnell wie möglich nach London. Mit etwas Glück habe ich die Sache so rechtzeitig erledigt, dass ich den Fünf-Uhr-Zug noch erwische, aber falls nicht, komme ich mit dem Nachtzug, und wenn ich den ganzen Weg sitzen muss!
Dann ging seine Feder mit ihm durch, und er ließ sie gewähren:
Meine Liebste, ich liebe Dich so sehr, aber in dieser Sache muss ich meinen Mann stehen, und wenn Du über die Umstände Bescheid wissen dürftest, würdest Du mir aus vollem Herzen zustimmen. Wahrscheinlich wärst Du viel mehr Manns als ich, aber es wird Zeit, dass ich mir Deinen Mut unter Feuer zum Vorbild nehme, anstatt den Kugeln immer nur auszuweichen.
Und wenn dieser letzte Satz sich drastischer las als beabsichtigt, blieb ihm doch keine Zeit zum Umschreiben mehr, wenn er den 8 : 42 -Zug noch schaffen wollte.
Er stieg wieder die Treppe hinauf, legte den Brief auf die Abdeckfolie vor dem Schlafzimmer und beschwerte ihn mit einem Meißel aus seinem verschossenen alten Werkzeugbeutel.
Kurzes Stöbern in der Bibliothek förderte einen ungebrauchten A 4 -Umschlag von seinem letzten Posten zutage, den er für sein Schriftstück hernahm und mit großzügigen Mengen Tesafilm zuklebte, ganz so wie letzte Woche seinen Brief an den jungen Bell.
Auf dem Weg zum Bahnhof, durch die windgepeitschte Mondlandschaft von Bodmin Moor, fühlte er sich so befreit, dass er zu schweben meinte. Als er dann freilich allein auf dem Bahnsteig stand, inmitten fremder Gesichter, packte ihn ein wilder Drang, nach Hause zu eilen, solange noch Zeit war, den Brief zu vernichten, sich seine gewohnten Kleider überzuziehen und Walter, Anna und Mrs. Marlow Entwarnung zu geben. Aber mit der Ankunft des
Weitere Kostenlose Bücher