Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
untergekommen war?
    ***
    Denn das tat er. Kits ganzer Körper signalisierte es ihm. Seine Füße signalisierten es. Sie fühlten sich taub an in den zu engen Halbschuhen. Sein alter Cambridge-Blazer signalisierte es. Er klebte ihm am Rücken. Inmitten der Hitze hatte kalter Schweiß Kits Hemd durchtränkt. Befand er sich in der Gegenwart oder in der Vergangenheit? Hier wie dort schien es dasselbe Hemd, derselbe Schweiß, dieselbe Hitze: ob auf dem Bailey’s Green, wo die Drehorgel ihren Rhythmus stampfte, oder an einem nächtlichen Hang überm Mittelmeer zum Stampfen sich entfernender Schiffsmotoren.
    Aber wie können zwei rege, offen blickende braune Augen über den lachhaft kurzen Zeitraum von drei Jahren alt und runzlig werden und alles Leichte verlieren? Denn nun hatte der Kopf sich gehoben, nicht nur ein Stück, sondern so weit, dass sich der hintere Rand des Lederhuts aufbog und freie Sicht (warum drängte sich ihm plötzlich diese Wendung auf?) auf das zerfurchte, knochige Gesicht darunter bot: auf die scharf hervortretenden Backenknochen, das energische Kinn und die Stirn mit dem gleichen Netz feiner Fältchen, die sich auch um die Augen- und Mundwinkel angesiedelt hatten und sie zu einem bitteren Ausdruck nach unten zogen.
    Und diese ehemals so wachen, wissenden Augen schienen all ihre Flinkheit eingebüßt zu haben, denn als sie Kit einmal gefunden hatten, machten sie keine Anstalten, weiterzuwandern, sondern blieben starr auf ihn geheftet, so dass der einzige Weg, ihnen zu entkommen, ein gewaltsames Sich-Losreißen war – was Kit denn auch zuwege brachte, aber nur, indem er sich mit dem ganzen Körper Suzanna zuwandte und sagte: Tja, da sind wir nun, was für ein Tag, Liebling, was für ein Tag! – oder etwas ähnlich Sinnloses und für ihn letztlich so Untypisches, dass über Suzannas erhitzte Züge ein befremdetes Stirnrunzeln glitt.
    Und dieses Stirnrunzeln war noch nicht ganz wieder verschwunden, als an sein Ohr die sanfte walisische Stimme drang, die nicht hören zu müssen er so inständig gebetet hatte:
    »Tja, Paul. Wie der Zufall so spielt. Nicht ganz das, was uns in Aussicht gestellt wurde, was?«
    Aber obwohl die Worte durch Kits Kopf hallten wie Gewehrschüsse, musste Jeb sie in Wahrheit sehr leise gesprochen haben, denn Suzanna – sei es weil die kleinen Hörgeräte, die sie unterm Haar trug, doch nicht so leistungsstark waren, sei es dank dem hartnäckigen Jahrmarktslärm – reagierte nicht darauf, sondern interessierte sich stattdessen angelegentlich für eine große Handtasche mit verstellbarem Schultergurt. Über ihr Veilchensträußlein hinweg fixierte sie Jeb, mit einem Lächeln, das eine Spur zu herzlich für Kits Geschmack war, eine Spur zu nett und bemüht: reine Schüchternheit, wusste er, auch wenn es nicht so wirkte.
    »Und Sie sind Jeb? Leibhaftig?«
    Was zum Teufel soll das heißen, leibhaftig?, fragte sich Kit in jäher Entrüstung. Was meint sie damit?
    »Also keine Vertretung oder Aushilfe oder, ja, etwas in der Art?«, fuhr sie fort, gerade so, als wollte sie sich vor Kit rechtfertigen.
    Und Jeb für seinen Teil ging ganz ernst darauf ein:
    »Na, getauft bin ich nicht auf Jeb, das geb ich zu«, antwortete er, indem er den Blick endlich von Kit abwandte und ihn mit der gleichen Stetigkeit auf Suzanna richtete. Und mit einer Gesprächigkeit, die Kit ins Herz schnitt, fügte er hinzu: »Aber der Name, den ich bei der Taufe mitbekommen habe, war offen gestanden ein solcher Brocken, dass ich ihn ein bisschen zusammenstutzen musste, sozusagen.«
    Doch damit war Suzannas Wissensdurst noch nicht gestillt:
    »Und wo um alles in der Welt treibt man so wunderbares Leder auf, Jeb? Es ist absolut traumhaft!«
    Woraufhin Kit, bei dem sich inzwischen der diplomatische Autopilot eingeschaltet hatte, ihr glühend sekundierte:
    »Ja, wirklich, wo haben Sie dieses fabelhafte Leder her, Jeb?«
    Es folgten ein paar Sekunden, während derer Jeb zwischen ihnen beiden hin und her sah, als wäre er unschlüssig, wem er den Vorzug geben sollte. Er entschied sich für Suzanna.
    »Ja, wissen Sie, Madam, das ist nämlich russisches Rentierleder«, erklärte er mit einer für Kit geradezu peinigenden Ehrerbietigkeit, während er eine Tierhaut von der Wand nahm und sie sich liebevoll über die Knie breitete. »Aus dem Wrack einer dänischen Brigg, die 1786 in der Bucht vor Plymouth gesunken ist, wie mir gesagt wurde. Sie war auf dem Weg von St. Petersburg nach Genua und hat vor den Südweststürmen

Weitere Kostenlose Bücher