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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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erster, gewollt unbeschwerter Gedanke. Wann hatte er zum letzten Mal einen echten Kesselflicker gesehen? Vor fünfzehn Jahren in Rumänien, während ihrer Bukarester Zeit. Möglicherweise sagte er sogar etwas Dahingehendes zu Suzanna. Vielleicht blieb es aber auch bei der Absicht, denn inzwischen hatte er seine Aufmerksamkeit dem Wagen des Mannes zugewandt, der nicht nur seine Arbeitsstätte, sondern auch sein spartanisches Zuhause war – wie zu erkennen an dem kleinen Herd, dem Hochbett, den Töpfen und Küchengerätschaften, die zwischen den Zangen, Bohrern und Hämmern hingen, und an den getrockneten Tierhäuten an einer der Wände, die ihm vermutlich als Teppiche dienten, wenn er seine Tür nach getaner Arbeit vor der Welt draußen verschloss. Aber alles so sauber und wohlgeordnet, dass es schien, als könnte der Besitzer jedes Teil blind finden. Er war der Typ dafür. Fingerfertig. Trittsicher.
    Aber definitives, unwiderrufliches Erkennen? Da ganz gewiss noch nicht.
    Mehr eine schleichend sich verdichtende Ahnung.
    Ein Zusammenfinden einzelner Erinnerungsbruchstücke, die sich zurechtrückten wie Scherben in einem Kaleidoskop, bis sie ein Muster zu bilden begannen, undeutlich erst und dann – aber ganz allmählich nur – immer verstörender.
    Eine verspätete Zuordnung, tief im Innern zunächst, auf die schrittweise, widerstrebend, mit großer Beklommenheit, die äußere Zuordnung folgte.
    Und daraufhin die Abkehr, ein physisches Sich-Abwenden, auch wenn die Einzelheiten Kit nur unklar im Gedächtnis blieben. Irgendwie war auf der Bildfläche der kleine dicke Philip Peplow erschienen, ein Hedgefonds-Manager mit Zweitwohnung in St. Pirran, im Schlepp seine neueste Flamme, ein Model von einem Meter achtzig in Harlekin-Leggings. Mochte sich in seinem Kopf auch ein Orkan zusammenbrauen, ein hübsches Mädchen erkannte Kit, wenn er eins sah. Zumal der hübsche Harlekin auch das Reden übernahm: Ob Kit und Suzanna heute Abend vielleicht auf ein Gläschen vorbeischauen wollten? Das wäre super, ab sieben, ganz zwanglos, Open House, und wenn’s nicht kübelt, grillen wir. Worauf Kit seine Verwirrung zu überspielen versuchte, indem er etwas von sich gab wie: Wir täten nichts lieber, schöne Titanin, aber wir bewirten nachher die Ordensträgergilde, man gönnt sich ja sonst nichts – »Ordensträgergilde« war Kits und Suzannas heimlicher Spitzname für all die lokalen Honoratioren mit einer Schwäche für ihre Amtsinsignien.
    Peplow und seine Titanin ziehen ab, und Kit bewundert weiter die Ware des Kesselflickers, zumindest mit dem Teil seines Hirns, der sich immer noch weigert, das Unzulässige zuzulassen. Suzanna steht neben ihm und bewundert sie ebenfalls. Möglich auch – sicher ist er sich nicht –, dass sie schon vor ihm mit dem Bewundern begonnen hat. Denn das ist schließlich Sinn und Zweck ihres Rundgangs: bewundern, weitergehen, ehe jemand sie mit Beschlag belegen kann, dann von neuem bewundern.
    Nur gehen sie diesmal nicht weiter. Sie stehen da und bewundern, bewundern, während es nach und nach zu ihnen durchdringt – oder vielmehr, während es zu Kit durchdringt –, dass der Mann gar kein Kesselflicker ist. Ist keiner, war nie einer. Wie zum Henker hat er jemals auf eine solche Idee kommen können?
    Der Kerl ist ein Sattler, verdammt. Er macht Sättel, in drei Teufels Namen, Zaumzeuge! Aktenmappen! Schulranzen! Portemonnaies, Brieftaschen, Damenhandtaschen, Untersetzer! Töpfe und Pfannen? Nichts da! Alles an und um den Mann war aus Leder. Er war ein Sattler, der seine Ware ausstellte. Der dafür Reklame lief, mit der Heckklappe als Laufsteg.
    Nichts davon hatte Kit bisher wahrhaben wollen. So, wie er auch den unübersehbaren Schriftzug nicht hatte wahrhaben wollen, handgemalte goldene Lettern auf der Seite des Campingbusses, die jedem, der Augen hatte zu sehen, auf fünfzig oder selbst hundert Schritt Entfernung JEBS LEDERWAREN anpriesen. Und darunter, zugegebenermaßen kleiner, aber darum nicht weniger lesbar: Direktverkauf . Keine Telefonnummer, Postanschrift, Internetadresse; kein Nachname. Nur Jeb und Direktverkauf. Knapp, schnörkellos, unzweideutig.
    Doch warum flüchteten sich Kits ansonsten so wohlregulierte Instinkte in diese anarchische, völlig irrationale Verleugnung der Tatsachen? Und warum erschien ihm der Name Jeb, nun da er die Augen nicht mehr davor verschließen konnte, als der skandalöseste, unverantwortlichste Fall von Geheimnisverrat, der ihm in seiner gesamten Laufbahn

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