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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Kit freilich keine Sekunde daran hinderte, den Hang hinunterzuspurten und in falscher Fröhlichkeit die Arme zu schwenken:
    »Jeb! Jeb! Wo zum Teufel steckt Jeb? Hat irgendjemand Jeb gesehen, den Lederverkäufer? Ist abgedampft, bevor ich ihm sein Geld zahlen konnte, der Trottel – jetzt hab ich jede Menge Schulden bei ihm. Wissen Sie vielleicht, wo Jeb hin ist? Und Sie auch nicht?« – nutzlose Appelle nach allen Seiten, während er die Reihe der Campingbusse und Transporter ablief.
    Aber die einzige Antwort reihum waren freundliches Lächeln und Kopfschütteln: Nein, Kit, tut uns leid, keiner weiß, wo Jeb hin ist oder wo er wohnt oder auch nur, wie er mit Nachnamen heißt, Jeb hält sich abseits, kein Unrechter, aber umgänglich ist was anderes – Gelächter. Eine Ausstellerin glaubte sich zu erinnern, ihn vor zwei Wochen beim Jahrmarkt drüben in Coverack gesehen zu haben; eine andere sagte, er sei letztes Jahr in St. Austell dabei gewesen. Aber niemand konnte ihm seinen vollen Namen nennen, niemand kannte seine Telefonnummer oder wenigstens sein Autokennzeichen. Wahrscheinlich hatte er es gemacht wie so viele Händler, meinten sie: die Anzeige gesehen, sich am Einlass seinen Ausstellerausweis gekauft, geparkt, verkauft, was ging, und das war’s.
    »Hast du wen verloren, Dad?«
    Emily war neben ihm aufgetaucht – das Mädchen war der reinste Flaschenteufel. Musste mit den Stallmädchen hinter den Pferdeboxen gequatscht haben.
    »Doch, ja. Jeb, diesen Sattler. Bei dem deine Mutter die Tasche gekauft hat.«
    »Wozu brauchst du ihn?«
    »Er braucht eher mich, ich« – jetzt gewann die Konfusion doch die Oberhand –, »er kriegt Geld von mir.«
    »Er hat sein Geld doch bekommen. Sechzig Pfund. In Zwanzigern.«
    »Schon, aber … das ist wegen was anderem« – er wich ihrem Blick aus. »Eine alte Schuld. Hat nichts mit dem hier zu tun …« Worauf er mit einem vagen »Muss dringend was mit Mum besprechen« den Fußpfad zurückhetzte und durch den Hintergarten in die Küche marschierte, wo Suzanna, unterstützt durch Mrs. Marlow, das Gemüse für den abendlichen Einfall der Ordensträgergilde schnippelte. Sie ignorierte ihn, also suchte er Zuflucht im Esszimmer.
    »Ich wisch noch mal kurz über das Silber«, verkündete er, laut genug, dass sie es hören und sich dazu äußern konnte, falls sie das wollte.
    Offenbar wollte sie nicht. Auch egal. Gestern hatte er hingebungsvoll die Silberkollektion des Kommandanten geputzt – die Paul-Storr-Kerzenhalter, die Hester-Bateman-Salzstreuer und die silberne Korvette samt Stilllegungswimpel, die dem alten Herrn von den Offizieren und der Besatzung seines letzten Kommandos überreicht worden war. Jetzt rieb er noch einmal lustlos mit dem Poliertuch über alles, schenkte sich dann einen großen Scotch ein, stampfte nach oben und setzte sich an den Schreibtisch in seinem Ankleidezimmer, um dort seiner nächsten Aufgabe für den heutigen Abend nachzukommen: den Platzkärtchen.
    Für gewöhnlich waren diese Platzkärtchen ein Quell stiller Genugtuung für ihn, denn er benutzte dafür die Visitenkarten, die von seinem letzten Auslandsposten übrig geblieben waren. Dann lugte er während des Essens verstohlen unter den Gästen umher, wenn der eine oder andere von ihnen das Kärtchen umdrehte, mit dem Finger über den Prägedruck strich und die magischen Worte las: Sir Christopher Probyn, Hochkommissar Ihrer Majestät der Königin . Für heute rechnete er sich keine solchen Freuden aus. Dessen ungeachtet machte er sich, mit der Gästeliste vor sich und einem Whisky an seinem Ellbogen, gewissenhaft – vielleicht allzu gewissenhaft – ans Werk.
    »Dieser Jeb ist übrigens auf und davon«, verkündete er in bewusst beiläufigem Ton, als er Suzanna hinter sich in der offenen Tür spürte. »Hat seine Zelte abgebrochen. Keiner weiß, wer er ist, keiner weiß, was er ist, oder irgendwas sonst über ihn, armer Teufel. Traurige Sache. Wirklich sehr traurig.«
    In Erwartung einer versöhnlichen Berührung oder einlenkenden Bemerkung hielt er in seiner Arbeit inne, doch stattdessen landete mit einem Plumps Jebs Umhängetasche vor ihm.
    »Schau rein, Kit.«
    Mürrisch zog er die offene Tasche zu sich her und tastete darin herum, bis er das eng zusammengefaltete linierte Papier zu fassen bekam, auf dem Jeb seine Quittung ausgestellt hatte. Er faltete es auf, ungeschickt, hielt es mit fahrigen Fingern unter die Schreibtischlampe:
    Für eine getötete Mutternichts.
    Für ein getötetes

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