Empfindliche Wahrheit (German Edition)
sich gegen die Stuhllehne fallen. »Nur dass ich ihn seitdem nicht mehr gesehen habe, kapiert?«
»Kapiert«, sagte Toby behutsam, und ein langes Schweigen folgte, bis Kit widerstrebend weitersprach.
»Hatte mir eine Handynummer gegeben. Nicht seine eigene. Er hat kein Handy. Die von einem Freund. Einem Kameraden. Dem einzigen, dem er noch vertraut. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Ich tippe auf Shorty, zu dem schien er damals einen guten Draht zu haben. Gefragt hab ich nicht, ging mich ja nichts an. Wenn ich eine Nachricht hinterließ, würde jemand sie ihm zukommen lassen, nur das war wichtig. Dann ging er. Aus dem Club. Die Treppe runter und weg, fragen Sie mich nicht, wie. Ich hatte gedacht, er würde die Feuerleiter runterklettern, aber nichts da. Er ging einfach.«
Noch ein Schluck Whisky.
»Und Sie?«, erkundigte sich Toby im selben ruhigen, respektvollen Ton wie zuvor.
»Ich bin heimgefahren. Was denn sonst? Hierher. Zu meiner Frau. Ich hatte ihr versichert, dass alles in Ordnung sei, jetzt musste ich ihr erklären, dass gar nichts in Ordnung war. Suzanna kann man nichts vormachen. Ich habe ihr keine Einzelheiten erzählt. Ich habe ihr gesagt, dass Jeb für eine Weile zu uns kommen würde und dass wir die Sache gemeinsam angehen würden. Suzanna nahm es auf – wie es eben ihre Art ist. ›Solange es nur zu einer Klärung führt, Kit.‹ Das wird es, sagte ich ihr, und das hat ihr gereicht«, schloss er aggressiv.
Wieder wartete Toby, während Kit mit seinem Gedächtnis zu Rate ging.
»Es wurde also Mittwoch, ja? Mittags noch immer kein Jeb. Zwei Uhr, drei, keine Spur von ihm. Ich rufe die Handynummer an, die er mir gegeben hat, bekomme eine automatische Ansage, hinterlasse eine Nachricht. Als es dunkel wird, hinterlasse ich eine zweite Nachricht: Hallo, hier noch mal Paul. Wollte nur fragen, was aus unserer Verabredung geworden ist. Ich dachte, ich bleibe besser bei Paul. Sicherer so. Ich hatte ihm unsere Festnetznummer gegeben, weil hier kein Empfang ist. Am Donnerstag spreche ich zum dritten Mal drauf, wieder mit derselben automatischen Ansage. Freitagmorgen um zehn klingelt hier das Telefon. Meine Herren!«
Er hat eine knochige Hand vors Kinn geschlagen und lässt sie dort, wie um einen Schmerz zu stillen, der nicht weggehen will, weil das Schlimmste offenbar erst kommt.
***
Kit sitzt nicht mehr in dem engen Zimmer im Club und lauscht Jebs Bericht. Er schüttelt nicht im fahlen Londoner Morgenlicht Jebs Hand oder sieht ihn die Treppe hinab verschwinden. Er ist nicht mopsfidel oder aufgekratzt, auch wenn er nach wie vor kampfbereit ist. Er ist daheim im Gutshaus, er hat Suzanna die schlechte Nachricht beigebracht, und jetzt sorgt er sich fast zu Tode und betet mit jeder verstreichenden Stunde glühender um ein Lebenszeichen von Jeb. Um sich abzulenken, schleift er die Dielenbretter vor dem Gästezimmer ab, was einen ohrenbetäubenden Krach veranstaltet, so dass es Suzanna ist, die den Anruf in der Küche entgegennimmt, und Suzanna, die die Treppe hinauf in den obersten Stock steigen und Kit auf die Schulter trommeln muss, um zu ihm durchzudringen.
»Ein Anruf für Paul«, sagt sie, als er die Schleifmaschine abgestellt hat. »Eine Frau.«
»Was für eine Frau, Himmelherrgott?« – Kit, schon halb die Stufen hinunter.
»Das konnte ich nicht herausfinden. Sie will nur mit Paul persönlich sprechen« – Suzanna eilt hinter ihm her.
An der Spüle steht Mrs. Marlow, ganz Ohr, und macht sich an ein paar Blumenstengeln zu schaffen.
»Wenn Sie uns ein bisschen Privatsphäre gönnen könnten, Mrs. M«, befiehlt Kit.
Und wartet, bis sie aus dem Zimmer ist, bevor er zum Telefon am Küchenbuffet geht. Suzanna schließt hinter Mrs. Marlow die Tür und nimmt Aufstellung neben ihm, die Arme vor der Brust verschränkt. Das Telefon hat eine Lautsprechtaste, die gedrückt wird, wenn Emily anruft. Suzanna drückt sie auch jetzt.
»Spreche ich mit Paul?«, fragt eine kultivierte, nicht junge Frauenstimme in sachlichem Ton.
»Wer ist da?«, erkundigt sich Kit wachsam.
»Mein Name ist Dr. Costello, ich rufe aus der psychiatrischen Abteilung des Ruislip General Hospital an, auf Bitten eines stationären Patienten, der nur unter Jeb firmieren möchte. Spreche ich mit Paul oder mit jemand anderem?«
Von Suzanna ein beschwörendes Kopfnicken.
»Ich bin Paul. Was ist mit Jeb? Er ist doch nicht krank?«
»Jeb erhält erstklassige medizinische Betreuung, und körperlich fehlt ihm nichts. Wenn ich richtig
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