Empfindliche Wahrheit (German Edition)
dieses Gentlemans mit der unaussprechbaren Anschrift dick mit Rotstift umringelt, sinnbildlich gesprochen.«
»Und das bedeutet?«
»Das bedeutet, dass jeder Polizist, der den Gentleman selbst oder irgendeine Spur von ihm sieht, unverzüglich ganz oben Meldung macht. Ich nehme nicht an, dass du mir erzählen möchtest, was es mit diesem dicken roten Kringel auf sich hat?«
»Tut mir leid, Charlie, das darf ich nicht.«
»Dein letztes Wort?«
»Ich fürchte, ja.«
Charlie hatte auf dem Bahnhofsvorplatz angehalten und stellte den Motor ab, entriegelte aber die Türen noch nicht.
»Tja, fürchten kannst du dich gar nicht genug, mein Junge«, sagte er streng. »Um dich und deine Dame, falls es sie gibt. Denn wenn ich meinen Bekannten bei der Met um einen Gefallen dieser Art bitte und in seinem Kopf fangen die Alarmglocken laut zu schrillen an wie jetzt im Fall deines Waliser Freundes, dann muss er auch seine dienstlichen Verpflichtungen mit bedenken, nicht wahr? Was er mir netterweise warnend mit auf den Weg gegeben hat. Er kann nicht einfach den Knopf drücken und dann weglaufen, verstehst du? Er muss seine eigene Position absichern. Deshalb sage ich dir jetzt Folgendes: Grüß die Dame von mir, falls sie existiert, und geh mit äußerster Vorsicht vor, denn die brauchst du leider Gottes, jetzt, wo unser alter Freund Giles nicht mehr unter uns weilt.«
»Nicht mehr unter uns weilt? Heißt das, er ist tot ?«, rief Toby, zu bestürzt, um sich dagegen zu verwahren, dass er als Oakleys Schützling hingestellt wurde.
Aber Charlie klang höchst belustigt:
»Lieber Gott, nein! Ich dachte, du wüsstest Bescheid. Es ist viel schlimmer: Unser Freund Giles Oakley ist unter die Banker gegangen! Und du dachtest, er wäre tot. Oje, oje, wenn ich das Beatrix erzähle! Nein, wenn einer ein Händchen für einen eleganten Abgang hat, dann unser Giles, sage ich immer.« Und mit einem teilnahmsvollen Senken der Stimme: »Höher konnte er ja nicht mehr kommen. Das war das Ende der Fahnenstange – für ihn. Ganz nach oben hätten sie ihn nicht gelassen nach der Sache in Hamburg. Zu riskant – zu leicht möglich, dass sich so was früher oder später doch noch rächt.«
Aber Toby war vorerst sprachlos. Dass er erst eine Woche wieder in London war, nach einer vollen Dienstzeit in Beirut, während derer Oakley in höhere Sphären entschwebt war, hatte ihn nicht daran gehindert, zu überlegen, wann, wie und ob überhaupt sein einstiger Mentor wieder auftauchen würde.
Jetzt hatte er seine Antwort. Der erbittertste Gegner der Banker und ihrer Spekulationsgeschäfte, der Mann, der sie als Blutsauger betitelt hatte, als Drohnen, als Parasiten der Gesellschaft und Schädlinge jeder anständigen Wirtschaft, war zum Feind übergelaufen.
Und warum hatte Oakley das getan?
Weil man ihn in Whitehall laut Charlie Wilkins als Sicherheitsrisiko einstufte.
Und warum stufte man Oakley als Sicherheitsrisiko ein?
Lehn den Kopf zurück in die eisenharten Polster des letzten Zugs zur Victoria Station.
Schließ die Augen, sag Hamburg und erzähl dir stumm die Geschichte, die dir niemals laut über die Lippen kommen darf.
***
Nicht lange nach seiner Ankunft in der Berliner Botschaft hat Toby Nachtdienst, als ein Anruf aus der Hamburger Davidwache gleich bei der Reeperbahn kommt. Der Hauptkommissar dort wünscht mit dem ranghöchsten Mitarbeiter vor Ort verbunden zu werden. Toby erwidert, dieser Mitarbeiter ist er – keine Kunst um drei Uhr nachts. Da er weiß, dass Oakley sich in Hamburg aufhält, zu einer Zusammenkunft mit einer Gruppe illustrer Reeder, wird er sofort hellhörig. Es war die Rede davon, dass Toby ihn der Erfahrung halber begleiten soll, aber Oakley hat es abgeblockt.
»Wir haben einen betrunkenen Engländer in einer unserer Haftzellen einsitzen«, informiert ihn der Hauptkommissar in exzellentem, wenn auch etwas geschraubtem Englisch. »Es war unglücklicherweise nötig, ihn festzunehmen, da er eine schwere Störung in einem Club der gewagteren Sorte verursacht hat. Er hat darüber hinaus viele Wunden«, fügt er hinzu. »An seinem Torso, um es so zu sagen.«
Toby rät dem Herrn Hauptkommissar, sich morgen Vormittag an die Konsularabteilung zu wenden. Das sei womöglich nicht im besten Interesse der britischen Botschaft, erwidert der Hauptkommissar. Toby fragt, warum nicht.
»Dieser Engländer hat keine Papiere und kein Geld. Alles wurde ihm gestohlen. Auch seine Kleider. Der Inhaber des Clubs hat uns mitgeteilt, dass es
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