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Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Empfindliche Wahrheit (German Edition)

Titel: Empfindliche Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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eine Auspeitschung der üblichen Art war, die bedauerlicherweise außer Kontrolle geraten ist. Allerdings sagt der Gefangene, er sei ein wichtiger Angehöriger Ihrer Botschaft, nicht der Botschafter, sondern besser.«
    Nur drei Stunden später fährt Toby vor der Davidwache vor, nachdem er durch Schwaden von Bodennebel die Autobahn entlanggebrettert ist. Oakley, halbwach, mit einem Polizeibademantel bekleidet, hängt schlaff in einem Stuhl im Büro des Hauptkommissars. Seine Hände mit den blutverschmierten Fingerspitzen sind an den Armlehnen festbandagiert. Sein Mund ist zu einer schiefen Schnute geschwollen. Falls er Toby erkennt, lässt er es sich nicht anmerken. Auch Toby verkneift sich jedes Zeichen des Erkennens.
    »Kennen Sie diesen Mann, Mr. Bell?«, fragt der Hauptkommissar in vielsagendem Ton. »Vielleicht stellen Sie ja fest, dass Sie ihn in Ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen haben, Mr. Bell?«
    »Dieser Mann ist mir vollkommen unbekannt«, antwortet Toby gehorsam.
    »Könnte er unter Umständen ein Hochstapler sein?«, souffliert der Hauptkommissar im gleichen wissenden Tonfall wie zuvor.
    Toby bestätigt, dass der Mann durchaus ein Hochstapler sein könnte.
    »Dann sollten Sie diesen Hochstapler vielleicht mit nach Berlin nehmen und ihn einem strengen Verhör unterziehen?«
    »Danke. Das mache ich.«
    Von der Reeperbahn fährt Toby mit Oakley, den man in der Zwischenzeit in einen Polizeitrainingsanzug gesteckt hat, in ein Krankenhaus am anderen Ende der Stadt. Keine Knochenbrüche, aber der Körper ist bedeckt mit einem wüsten Zickzack von Risswunden, die von Peitschenhieben herrühren könnten. In einem überfüllten Einkaufsmarkt besorgt er einen billigen Anzug für ihn und ruft dann Hermione an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Mann einen leichten Autounfall hatte. Nichts Ernstes, sagt er, Giles saß auf dem Rücksitz einer Limousine und hatte den Gurt nicht angelegt. Auf der Rückfahrt nach Berlin spricht Oakley kein Wort. So wenig wie Hermione, als sie kommt, um ihn aus Tobys Auto auszuladen.
    Und Toby verliert ebenfalls kein Wort über die Sache, und von Giles Oakley kommt auch später nichts, außer einem Umschlag mit dreihundert Euro, der eines Tages in Tobys Botschaftspostfach liegt, als Zahlung für den neuen Anzug.
    ***
    »Da ist das Denkmal, sehen Sie!«, rief die Fahrerin, die Gwyneth hieß, wobei sie mit dem kräftigen Arm aus dem Fenster zeigte und abbremste, damit Toby bessere Sicht hatte. »Fünfundvierzig Mann, in über dreihundert Metern Tiefe. Schlimm.«
    »Wie ist es passiert, Gwyneth?«
    »Ein einzelner Stein, der sich gelöst hatte. Ein kleiner Funke, mehr hat’s nicht gebraucht. Brüder, Väter und Söhne. Und wie das erst für die Frauen sein muss.«
    Toby versuchte es sich vorzustellen.
    Nach einer weiteren schlaflosen Nacht, und entgegen sämtlichen Prinzipien, die er seit seinem ersten Diensttag heilig hielt, hatte er rasende Zahnschmerzen vorgeschützt, den Zug nach Cardiff genommen und dann ein Taxi für die fünfzehn Meilen bis zu der von Charlie Wilkins für unaussprechbar erklärten Adresse. Das Tal war ein Friedhof von stillgelegten Kohlengruben. Schwarzblaue Regensäulen stiegen von den grünen Hügelrücken auf. Die Fahrerin war eine füllige Frau in den Fünfzigern. Toby saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Die Bergwände rückten näher zusammen, und die Straße verengte sich. Sie kamen an einem Fußballplatz und einer Schule vorbei, hinter der ein überwucherter Flughafen mit eingefallenem Kontrollturm und dem Skelett eines Hangars zu erkennen war.
    »Sie können mich vorn beim Kreisverkehr rauslassen«, sagte Toby.
    »Aber haben Sie nicht gesagt, Sie wollten einen Freund besuchen?«, gab Gwyneth anklagend zurück.
    »Will ich auch.«
    »Und warum fahren Sie dann nicht bis zu ihm vors Haus?«
    »Weil ich ihn überraschen möchte, Gwyneth.«
    »Na, Überraschungen gibt’s sonst nicht mehr viele hier, das kann ich Ihnen sagen«, erklärte sie und gab ihm ihre Visitenkarte für die Rückfahrt.
    Der Regen hatte sich zu einem feinen Nieseln abgeschwächt. Ein rothaariger Junge, um die acht Jahre alt, kurvte mit einem brandneuen Fahrrad die Straße auf und ab und betätigte dabei eine antiquierte Messinghupe, die an seinen Lenker geschraubt war. Schwarzweißes Fleckvieh weidete in einem Wald aus Hochspannungsmasten. Linker Hand stand eine Reihe von Fertighäuschen mit grünen Bogendächern, jedes mit dem gleichen kleinen Schuppen im Vorgarten. Vermutlich waren hier

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