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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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wären sie menschliche Wesen. Sie kratzen
und quälen einander, wie Menschen, die von bösen
Geistern besessen sind. Kein Hirsch läßt einen
anderen in die Nähe seiner Weibchen. Die Auerhähne
tanzen in den Wäldern vor ihren Hennen, wie wir vor den
Mädchen, und die Bisons bekämpfen einander mit
rasender Wut, wenn die Liebe sie überfällt. Vor
einigen Monaten sah ich, als ich gegen Osten wanderte, zwei Bisonstiere
miteinander kämpfen. Ich war auf einen Baum geklettert, und in
ihrer blinden Wut haben sie mich nicht bemerkt. Sie hatten ihre Herde
verlassen, und ein Weibchen war ihnen gefolgt. Gleich uns haben auch
sie ihre bestimmten Kampfregeln, und wenn man ihnen zusieht, erkennt
man, daß sie Wesen wie wir sind, und zum Leben nur eine Form
gewählt haben, die nicht menschlich ist. Sie stampfen den
Boden mit ihren Füßen, stürmen vor und
weichen zurück und brüllen dumpf mit so unheimlichen
Lauten, daß man glauben könnte, sie fordern einander
in einer Sprache heraus, die nur wir nicht verstehen. Dann betrachten
sie sich einen Augenblick und gehen aufeinander los. Ihre
mächtigen Körper recken sich. Weder der eine noch der
andere weicht zurück. Dann verlassen sie einander, entfernen
sich ein wenig und stürzen von neuem vor. Den Lärm,
den das Zusammenprallen der beiden Schädel verursacht, kannst
du dreihundert Schritte weit hören. Es ist ein Wunder,
daß der Stoß nicht die Köpfe spaltet.
Niemals aber hat man einen Bison gesehen, der in solchem Kampfe den Tod
fand. Ihre Hörner sind zu kurz, um schwere Verwundungen zu
verursachen, doch bald triefen sie von Blut. Endlich, nach einem noch
heftigeren Angriff, wankt einer von ihnen und bricht nieder. Wie ein
Berg liegt er dann auf dem Boden. Der andere schlägt noch mit
seinen Hörnern und Hufen nach ihm und läßt
ihn liegen ... Dann geschieht, was man überall sieht, der
Sieger entführt das Weibchen; sie verlassen die Herde und
verbringen die Zeit ihrer Liebe in der Einsamkeit der
Wälder.«
    »Wie glücklich ist so ein
Weibchen,« sprach Mah, »denn der Stärkste,
der Schönste ist es, der sie gewinnt.«
    »Wenn die Männchen alt werden,«
erzählte No weiter, »dann kämpfen sie nicht
mehr. Sie wagen es nicht, sich den Weibchen zu nähern. Einsam
und kummervoll irren sie umher.«
    »Bei ihnen liegen die Dinge viel besser als bei
uns«, seufzte Mah. »Nur bei den Menschen ist es
möglich, daß ein Greis ein junges Mädchen
zur Frau begehrt.«
    »Mensch bleibt Mensch,« schloß No
altklug, »er steht über dem Tier, das seine Jagdbeute
wird, und von dem er sich nährt.«
    Mah erhob sich. Für heute hatte sie genug geplaudert.
Jetzt wollte sie spielen.
    »Machen wir einen Wettlauf, bevor wir heimgehen,
dorthin bis zu jener Birke?« fragte sie No. »Aber du
mußt mir zehn Schritte vorgeben.«
    Sie nahmen ihre Stellungen ein. Dann rief No
plötzlich: »Los!« und flog, wie der Speer
aus der Hand des Jägers. Mah schnellte wie ein Pfeil davon. No
bewunderte sie entzückt, wie sie vor ihm herlief, daß
man kaum ihre Füße den Boden berühren sah.
Nicht weit vor dem Baum hatte er sie fast eingeholt. Sie
zögerte, als sie die Schritte ihres Bruders knapp hinter sich
vernahm. Mit halbgeöffnetem Mund und funkelnden Augen
verlangsamte sie ihren Lauf. No nahm sie in seine Arme und
preßte sie an sich. An seiner Brust fühlte er Mahs
Herz so stürmisch pochen, wie das eines erschrockenen
Vögleins, das man in der Hand gefangen hält.
    In der Dämmerung erwartete Mah hinter einem
Steinblock im Lager versteckt das Hereinbrechen der
nächtlichen Finsternis. In ihrer linken Hand lag das
Tonmodell, das ihr Bruder verfertigt hatte und dem sie durch den Namen
ein geheimnisvolles Dasein gegeben hatte. Endlich blinkte der
Abendstern auf. Mah hielt eine Knochennadel in der rechten Hand. Sie
senkte sie mit einem einzigen Stoß an die Stelle des Herzens
der Figur, die die sterbliche Hülle des alten
Häuptlings beschwor. Der Lehm widerstand wie Haut und Fleisch
eines lebenden Körpers und schloß sich dann
über der Nadel.
    Mah bebte. Sie erwartete, daß Blut aus der Wunde
quelle. Die Waffe durfte nicht vor dem nächsten Morgen
herausgezogen werden.
    Einige Tage vergingen. Mah war jetzt vollkommen ruhig. Das
angewandte Mittel war unfehlbar. Nachdem die Nadel entfernt war, hatte
sie die Figur in kleine Stücke zerbrochen und geheimnisvoll im
Flusse versenkt. –
    Die Feierlichkeiten der Einweihung

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