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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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keinen anderen Gesprächsstoff als die Ereignisse des kommenden
Tages. Die Reden waren ungezwungen, die Scherze ohne
Zurückhaltung. Gesten begleiteten die Worte, und
stürmische Heiterkeit folgte ihnen. Bei vorgeschrittener Nacht
sangen sie gemeinsam ein Lied, worin das Leben der jungen
Mädchen dem der Frauen gegenüber gestellt wurde; das
der Mädchen wurde begeistert gepriesen; dann beschrieb das
Lied die Mühen und Plagen der Frauen. Und der Refrain sagte
immer wieder: Werde Frau, meine Tochter – werde Frau!
    Einige von ihnen tanzten im Kreise, begleitet von den Zurufen
und dem Händeklatschen der Zuschauerinnen, die sich eine nach
der anderen erhoben und dem Reigen einfügten.
    Es war spät in der Nacht. Die durch den Lärm
aufgestörten Eulen, die in der Dunkelheit umhergeflogen waren
und mißbilligend mit dumpfen Rufen das Lachen der
Mädchen beantwortet hatten, suchten schon ihre Nester auf, als
die Mädchen endlich still wurden und ermüdet
einschliefen.
    Hoch stand schon die Sonne am Himmel, und lebhafte Bewegung
herrschte auf der Wiese, als sie wieder erwachten. Das Volk der drei
Stämme, außer den Greisen, die das Lager bewachen
mußten, den Mädchen, die noch zu jung waren, um an
den Spielen teilzunehmen, und den Kindern, die die Anstrengungen der
Reise nicht ertragen konnten, war versammelt. Es waren mehr als tausend
Personen, die sich an der Hügellehne des engen Tales, das sich
gegen den Fluß zu öffnete, niedergelassen hatten. Ein
Wäldchen begrenzte die eine Talseite. Die andere stieg
terrassenförmig empor; sie war von Moos und Rasen bedeckt. An
ihrem Ende bildete eine hohe, überhängende
Felsplatte, die man »Stein der Qualen« nannte, eine
natürliche Plattform.
    Die Mädchen, die man nach vorne gesetzt hatte, trugen
ihren schönsten Putz. Sie erlaubten sich bei diesem Anlasse
einige sinnreich ausgedachte Abwechslungen in ihrer Kleidung. So sah
man an den Mammuttöchtern mit ein wenig Erstaunen,
daß sie ihr Wams, das so weit war, wie es sich
gehörte, mit einem Gürtel aus biegsamem Leder eng
über dem Leib festhielten, wodurch ihre schlanke Taille
vortrefflich betont wurde. Die Mütter der anderen
Stämme urteilten sehr strenge über diese Neuerung.
Doch ihre Töchter beneideten die Gefährtinnen, die so
kühn waren, sich so zu zeigen. Die Töchter des Ebers
hatten mit schwarzer Farbe Querstreifen auf die Haut ihres Wamses
gemalt, doch fanden sie damit wenig Anklang. Die Töchter des
großen Bären dagegen trugen die Zobelfelle, die sonst
um den Hals befestigt waren, heute frei herabhängend, so
daß die weichen Schwänzchen lose an ihre Brust
schlugen. Diese neue Mode gefiel.
    Alle waren geschminkt; sie hatten Rot auf die Wangen und
Lippen und schwarze Farbe rings um die Augen aufgelegt.
Perlmutterschimmernde Muscheln trugen sie als Halsketten und im
aufgelösten Haar zum letztenmal Blumen. Man bemerkte,
daß die Töchter des Bären auf den seltsamen
Gedanken gekommen waren, auch die Fußsohlen und Fersen ihrer
Füße mit Ocker zu färben.
    Der alte Rahi betrachtete sie teilnahmslos vom »Stein
der Qualen« aus, wo er die Häuptlinge der anderen
Stämme empfing. Die einzige, die ihm reizvoll erschienen
wäre, war ja nicht unter ihnen. Mahs Flucht hatte ihn sehr
getroffen. Er war noch hagerer geworden, und Timaki bekam seinen Groll
zu fühlen. Wie gerne hätte Rahi sein einsames,
sorgenschweres Leben dahingegeben!
    Die Mütter setzten sich hinter ihre Töchter.
Etwas abseits standen die Männer beisammen und besprachen
eifrig das einzige Ereignis, das alle beschäftigte: das
Verschwinden der Renntiere. Kinder spielten da und dort und kollerten
schreiend übereinander. Das Wetter war schön. Nur
einzelne dunkle Wolken zogen über den Himmel und warfen ihren
Schatten manchmal auf die Hänge, Wiesen und Wälder.
    Die scharfen Töne der Bockshörner
kündeten das Nahen der jungen Männer. Von den Weisen
geführt, zogen sie paarweise in lebhaftem Marschtempo mit
langen, geschmeidigen Schritten vorbei. Es waren große,
schlanke, prächtige Gestalten mit breit gewölbter
Brust und schmalen Hüften. Händeklatschen und
lebhafte Zurufe empfingen sie. Die Jünglinge gaben sich bei
diesem Einzug alle Mühe, weil er von den Alten mit kritischen
Augen überwacht wurde. Und erfreut konnten die Väter
jene Eigenschaft, die sie am meisten schätzten, bei der Jugend
wiederfinden: die natürliche Anlage zum Schreiten und Laufen,
durch

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