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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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voll tiefen Sinnes. Er versteht sie im ganzen und in den Einzelheiten.
Doch er ist nicht gezwungen, schon heute eine Frau zu wählen.
Er kann noch ein oder zwei Jahre warten, mag auch das Leben ohne
Gefährtin mühseliger sein.
    Er gelangt mit seinen Gefährten bis zur Mitte des
Tales. Hier stehen sie reglos und warten, man weiß nicht,
worauf.
    Ein Weiser tritt aus dem Wald und trägt zwei Ellen
lange, geschmeidige Gerten vom Haselnußstrauch. Vor den
Jünglingen schwingt er eine von ihnen, als ob er einen
Schuldigen schlüge. Dann verteilt er feierlich eine nach der
anderen dieser Waffen, unentbehrlich jenen, die ein Weib nehmen.
    Die empörten Rufe der Mädchen tönen
herüber. Die Frauen stimmen mit ein. Die Väter
dagegen lachen und billigen es. Nach dem Beispiel des Weisen
täuschen die Jünglinge die Züchtigung einer
unsichtbaren Gefährtin vor.
    Jetzt endlich beginnt der Schlußakt des Festes: der
kriegerische Tanz der jungen Männer. Sie werfen ihre Speere
nach dem Feind, weichen seinen Angriffen aus, und, um ihn zu schrecken,
lassen sie ihr Kriegsgeschrei ertönen. Schon ist die
Dämmerung hereingebrochen, die Blicke suchen am Himmel nach
dem ersten Stern. Das Tal, das jetzt im Schatten liegt, tönt
von dem Kreischen der Frauen, dem Lachen der Männer und dem
Kriegsgeschrei der Jünglinge, die kämpfen, springen,
geschickt ausweichen und angreifen. Die Trommeln und
Bockshörner lassen sich ohne Unterlaß vernehmen.
Lauter und schärfer werden die Rufe der jungen
Mädchen. Einige erheben sich und beginnen mit starren Augen
wie Besessene zu tanzen. Sie drehen sich und die immer noch
kämpfenden Jünglinge kommen jetzt immer
näher an sie heran.
    Plötzlich erfaßt der Sieger im Ringen, der
Sohn des Mammut, eine von ihnen an beiden Handgelenken und zwingt sie
vor sich in die Knie. Sie widersteht, sie kämpft, schreit.
Ihre Freundinnen eilen, ihr zu helfen. Er aber hat sie schon in die
Höhe gehoben, auf seine Schulter gesetzt – eine
Feder erscheint Kinderhändchen schwerer, als diesem Riesen das
Gewicht des Mädchens. Und langsam ohne ein Wort zu sprechen,
wendet er sich dem nahen Walde zu. Die Mädchen
drängen nach und rufen wirr durcheinander.
    »Wohin, Unselige?« – »Gib
sie uns zurück!« – »Was willst du
mit ihr?« – »Sei wenigstens gut zu
ihr!«
    Ohne zu antworten, trägt der Sohn des Mammuts seine
Beute davon. Er ist am Waldesrand, er verschwindet hinter den
Stämmen. Niemand wagt, ihm zu folgen...
    In der jetzt hereinbrechenden Nacht wiederholen sich die
gleichen Szenen. Der Vollmond beleuchtet die Liebespaare, und das
Jammern der Mädchen steigt zu ihm empor.
    Von den fünfzig Eingeweihten sind sechsundvierzig mit
der Gefährtin ihrer Wahl im Walde verschwunden.
    Nur vier konnten sich nicht entschließen, in diesem
Jahre eine Frau zu wählen. No ist einer von ihnen.
    Am Morgen nach den Hochzeitsspielen sah No sich
genötigt, nach einer Wohnstätte Umschau zu halten.
Die Gesetze des Stammes erlaubten ihm nicht, jetzt noch mit seiner
Mutter unter einem Dach zu wohnen.
    Nicht weit entfernt öffnete sich ein Tal, dessen
überhängende Felsen an ihrem Fuße manchen
Unterschlupf boten. In einem wohnte eine Generation von Fischern, und
über dem Felsen, der die Decke bildete, prangte das in den
Fels geritzte und gemalte Bild eines prächtigen Lachses. Hier
wurden zur Laichzeit feierliche Zeremonien abgehalten, damit der Fisch
sich vermehre und der Fang ergiebig sei. Weiter oben befand sich das
ausgedehnteste Lager der Gegend. Obwohl es durch die Folgen der
Entvölkerung zur Hälfte verlassen lag, hausten dort
noch immer über zehn Familien, und No fürchtete,
daß es zu lärmend sein würde.
    In einiger Entfernung aber hatten sich an einen zwischen
Bäumen versteckten Ort jene beiden Freunde Nos
zurückgezogen, von denen er die Kunst, Tierbilder dem Leben
nachzuzeichnen, erlernt hatte. Sie waren schon reife Männer
und hatten niemals eine Gefährtin gewählt. Der
jüngere von ihnen, Boro, war schweigsam und in sich gekehrt
und stand beim ganzen Stamme in hohem Ansehen. Sie schnitten
bedächtig das harte Material, das, einmal von ihnen
berührt und von den Weisen geheiligt, magische Kräfte
besaß. Der Beruf, dem sie sich geweiht hatten, erweckte eine
gewisse Scheu in den Leuten des Flusses, die es vermieden, an ihrer
Terrasse vorbeizugehen.
    Sie nahmen No freundlich bei sich auf. War er doch der
begabteste von all denen, die

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