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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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sich in ihren Mußestunden darin
übten, zu zeichnen, Bilder zu ritzen und zu formen. Er war ein
Schüler, der ihnen Ehre machen und dem Stamm wichtige Dienste
erweisen könnte, wenn sie einmal nicht mehr da wären,
und es notwendig sein würde, den magischen Schatz in den
Tiefen der heiligen Grotten zu vergrößern.
    Die Besorgnisse, die den Stamm bewegten, fanden in ihrer
Wohnstätte lebhaftes Echo. Die Weisen kamen oft hierher, und
No wohnte diesen höchst bedeutsamen Unterredungen bei, die von
den für das geistige und körperliche Wohl des Stammes
Verantwortlichen geführt wurden. Hier im vertrauten Kreis
versuchten sie nicht mehr, ihre Sorgen zu verbergen. Nahte dem Stamme
wirklich das Ende? Oder würde er noch vor ihrem Tode eine neue
Blüte erleben? Wird der kommende Winter Kälte und
Schnee und – die ersehnten Renntiere bringen?
    Das waren die leidenschaftlichen Fragen, die No tagein, tagaus
von Männern besprechen hörte, die vor Besorgnis
ratlos waren. Deutlich fühlten sie das Raunen einer
wachsenden, allgemeinen Unzufriedenheit, die dem ohnmächtigen
Häuptling und seinen hilflosen Beratern galt. Wenn die Dinge
sich nicht zum Besseren wandten, würde nicht bald ein Aufruhr
ausbrechen, der sie alle wegfegen müßte? Muß
erwähnt werden, daß No ihnen nur mit halbem Ohr
lauschte? Er war noch nicht zwanzig Jahre alt, voll Kraft und
Geschicklichkeit, rascher im Laufe als alle seine Gefährten.
Wie hätte er sich vorzustellen vermocht, daß ihm die
Beschaffung seiner Nahrung nicht immer mühelos gelingen werde?
Um ihm Angst zu machen, da mußten schon ganz andere Dinge
kommen, als bloße Mutmaßungen.
    An Mah dachte er immer noch! Oft betrachtete er die kleine
Figur, die er gefertigt hatte, und die sie ihm zurückbringen
sollte. Das Elfenbein, über das seine Finger strichen, war
nicht zarter als die Haut der Geflüchteten...
    Oft wandte er sich auf seinen Pirschgängen zu den
Ufern des breiten Stromes, den sie auf ihrer Flucht durchquert haben
mußte. Denn hier würde sie eines Tages auch wieder
zurückkehren. Sein Blick schweifte über das
zerklüftete Land, das sich vor ihm ausdehnte, und sein Geist
suchte die Täler zu erraten, durch die Mahs Schritte
heimwärts wandern würden.
    Da stand er auch eines Tages, in der Kühle des
Morgens, ermüdet nach einer Jagd auf ein Hirschkalb, das er
die ganze Nacht verfolgt hatte und erst früh in
heißem, langem Wettlauf bezwingen konnte. Er warf seine Beute
hinter sich und legte sich auf einen Felsen, von dem das
Flußtal auf dreißig Schritte zu überblicken
war. Von den Sonnenstrahlen erwärmt, war er eben im Begriff,
einzuschlummern, als aus der Ferne ein Geräusch zu ihm rang.
Er lauschte, sich so flach als möglich an den Boden
schmiegend. Bald war er beruhigt. Helles Lachen aus Frauenmund und
fröhliche Rufe klangen bis zu ihm herauf. Kurz danach sah er
auf dem Pfade, der sich unter ihm durchs Dickicht schlängelte,
fünf oder sechs Mädchen auftauchen. Sie
gehörten zu einem Stamm, mit dem die Leute des Flusses wenig
Beziehungen unterhielten. Es hatte einmal blutigen Streit zwischen
ihnen gegeben, und obwohl es schon lange her war, die Erinnerung daran
war noch nicht erloschen. Im übrigen betrachteten die
Söhne des Bären mit Verachtung diese Nachbarn, die an
den Ufern des Flusses wohnten, die Jagd vernachlässigten und
fast ausschließlich vom Fischfang lebten.
    Die Mädchen, deren aufgelöste Haare im Winde
flatterten, gingen nahe an No vorüber und verschwanden ein
wenig weiter hinter den Weiden, deren Zweige bis auf das Wasser des
Flusses niederhingen. Doch wenige Augenblicke später sah No,
wie die Zweige sich bewegten, und bald entdeckte er die
Mädchen – nun entkleidet – wie sie,
Forellen gleich, sich munter im Flusse tummelten. Sie schwammen nur
etwa hundert Schritte von ihm entfernt im klaren Wasser, in dem ihre
feinen, schlanken Körper in der Tönung dem Elfenbein
glichen, aus dem er Mah geschnitzt hatte. Das entzückende
Schauspiel dauerte an. Sie bewegten sich in vollkommener Sicherheit.
Zweifellos war diese Uferstelle schon seit langem für ihr Bad
bestimmt, und die Männer kamen nicht hierher. Eine von ihnen
war jetzt näher zu No geschwommen. Er vermochte sogar ihre
Züge zu unterscheiden. Etwas in ihrem kleinen Gesichte mit den
vollen Wangen erinnerte ihn an seine verschwundene Schwester ... Doch
schon entfernte sich die Badende und begab sich zu ihren

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